Hysterie

Liebe Leserin und lieber Leser!

Was macht dich hysterisch?

Viele, denen wir diese Frage gestellt haben, haben mit einer präzisen Abgrenzung des Begriffs »Hysterie« gerangelt, haben versucht, ihn von seinen engen Verwandten Panik, Aufruhr, Überreizung, Aufregung oder emotionale Überspanntheit zu unterscheiden. Was bedeutet Hysterie für uns heute wirklich?

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Hysterie ein rein feminin attribuiertes Phänomen. Die deutsche Schauspielerin und Sängerin Hildegard Knef hat einmal behauptet, brülle ein Mann, sei er dynamisch, brülle eine Frau, »ist sie hysterisch«. Eine weniger feministische Sichtweise hatte vor etwas mehr als hundert Jahren der österreichische Philosoph Otto Weininger, der nicht eine gesellschaftliche, sondern eine biologische Determination hinter der Verhaltensweise sah. Er interpretierte die Hysterie 1903 als »eine organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes«. Hysterie war eine Frauenkrankheit. Seitdem hat sich einiges getan. Zwar wird das Gefühl »hysterisch« auch heute noch häufig weiblich konnotiert, die Emanzipation der Frau hat sich dennoch auch in der offiziellen Hysterie-Definition niedergeschlagen. Heute ist Hysterie weit mehr als weibliche Gefühlsekstase und selbstvergessene Teenie-Idol-Vergötterung. Sie ist auch mehr als das, was sich hinter dem medizinischen Fachbegriff versteckt, also mehr als eine psychische Störung, mehr als eine Form der Neurose oder ein Verhalten, das aus Affekten entsteht.

Viel öfter wird der Begriff heute umgangssprachlich verwendet. Hysterie ist ein gesellschaftsdurchdringendes Phänomen, ein Massenphänomen geworden: Beinahe täglich taucht das Wort in den Tageszeitungen auf. Es liegt Politikern auf der Zunge, wenn sie sich wie Rainer Brüderle zum Gefühlszustand der Deutschen nach Fukushima äußern. Experten und Analysten beschwören es herauf, wenn es darum geht, dem panischen Tohuwabohu der Finanzmärkte einen Namen, eine Beschreibung, eine Erklärung zu geben. Und wir Bürger lassen uns von den Medien in Aufruhr versetzen, lassen uns verrückt machen, wenn mit potentiellen Gesundheitsgefährdungen so auf uns eingedroschen wird, dass wir aufhören Gurken oder Tomaten zu kaufen. Mit was verbindest du die Sprossen auf unserem Titelbild?

Hysterie ist allgegenwärtig – ist zum Treiber für Volk und Politik geworden. Sie ist ein Stück Zeitgeist. Für die Lautschrift war all das Grund genug, das Thema näher unter die Lupe zu nehmen. Mit jener »Dauerhysterisierung« der Gesellschaft hat sich einer unserer Autoren intensiv beschäftigt. Er vertritt die Ansicht, dass diese früher oder später in Indifferenz umschlagen muss. Dann hilft nur noch eines: ein Gewöhnen an die Apokalypse, die mitunter auch den Weltuntergang beinhalten kann. Solche Szenarien wurden schon seit jeher prognostiziert: Nach dem Maya-Kalender soll die Welt in diesem Jahr untergehen. Was es mit diesem mysteriösen Kalender auf sich hat, findet ihr in diesem Heft. Es sind jedoch nicht nur solche externen Faktoren, die uns hysterisch werden lassen. Gerade die Universität, die eine zukunftsweisende Lebens- und Schwellenphase für Studenten darstellt, ist ein Nährboden für die Hysterie. Eine Autorin berichtet ausführlich über ihre Panik vor den Abschlussprüfungen. Ebenso kann uns das Verwaltungssystem der Universität erheblich ins Schwitzen bringen. Das Studium ist eine Phase der Selbstfindung, mitunter aber auch der Partnerfindung. Manche von uns hat schon die »Torschlusspanik« gepackt. Einen Ausweg aus dieser Hysterie bietet »Speeddating«. Doch findet man in so kurzer Zeit seinen Traumpartner? Die Lautschrift ist dieser Frage nachgegangen.

Wie üblich findet ihr auch Themen über Uni, Gesellschaft, Kunst und Politik im Heft.

Und solltet ihr nun vor lauter Freude über die Ausgabe 12 hysterisch werden, wollen wir euch nicht länger aufhalten. In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen der neuen Lautschrift!

Katharina Brunner, Moritz Geier und Christian Basl
Chefredaktion

 

Ausgabe 12, Winter 2012

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