Eine schrecklich kaputte Familie: »Vor Sonnenaufgang« im Theater Regensburg
»Ganz leicht an der Wirklichkeit vorbei.« – Ein prägnanter, süffisant gemeinter Satz aus Ewald Palmetshofers Neuadaption des naturalistischen Dramas »Vor Sonnenaufgang« von Gerhart Hauptmann beschreibt und enthüllt sämtliche Mechanismen unserer Gesellschaft. Lügen und Fehler aller politischen Lager, vermeintlich heilen Familienwelten und banalen zwischenmenschlichen Interaktionen werden in diesem Stück aufgedeckt. Von der Form her ganz leicht an Hauptmanns Original vorbei, trifft die seit dem 6. April im Theater Regensburg aufgeführte Version dennoch, oder gerade deshalb, ins Mark des heutigen politischen und sozialen Klimas.
Von Elias Schäfer
In der ursprünglichen Fassung, die am 20. Oktober 1889 im Lessing-Theater in Berlin erstmals aufgeführt wurde, handelte es sich selbstverständlich um aktuelle Themen des späten 19. Jahrhunderts: die soziale Frage, Alkoholismus, Reichtum, Familienprobleme. Was sofort auffällt, ist, dass fast 130 Jahre später all diese Probleme immer noch vorherrschend sind, weshalb sich dieses Stück perfekt anbietet, ins Jahr 2019 versetzt zu werden. Das modern aufpolierte Drama folgt den Rahmenbedingungen seiner Quelle, nimmt jedoch so einige Veränderungen vor. Der Cast besteht nur noch aus sieben Charakteren, wurde somit auf das nackte Grundgerüst reduziert. Außerdem steht weniger der Alkoholismus im Vordergrund als die weitervererbte Depression. Hinzu kommt das veränderte Setting, das die durch Kohlenfunde zu Reichtum gekommene Bauernfamilie Krause in das mittelständische, rechtskonservativ-populistische Unternehmer-Milieu hebt, sowie den vorherigen Volkswirtschafts-Studenten Alfred Loth, der nunmehr für eine linke Wochenzeitung als Journalist tätig ist. Die Sprache bewahrt jedoch bis auf einige Ausnahmen ihre ursprüngliche, eher poetische Form, auch wenn das ein oder andere Mal ein nonchalantes »Fick dich!« fällt.
Was bei dieser Aufführung auffallend unauffällig ist, ist die minimalistisch gehaltene Bühnengestaltung: Bis auf drei hellblau-melierte Wände, in denen die komplette Handlung spielt; sowie einige Requisiten, wie jeweils eine Wein- und Sektflasche, Toys’R’Us-Tüten und eine große Pappschachtel, ist nichts weiteres an Bühnendesign vorhanden. Das komplette Ensemble steht die gesamte Spieldauer über auf der Bühne und jede*r Schauspieler*in verbringt die Zeit, in der sie/er nicht in der jeweiligen Szene vorkommt, regungslos an einer der drei Wände im Hintergrund. Ein wiederkehrendes Motiv, das gleich zu Anfang auftritt, ist das Treffen zwischen Helene, der jüngeren Tochter der Familie Krause, und Thomas Hoffmann, dem Mann ihrer großen Schwester Martha, auf der Terrasse vor dem Haus der Krauses. Dort unterhalten sie sich über existenzielle Dinge, die auch auf das allgemeine Leben übertragen werden können. Schrittweise kommen nach einem Monolog Helenes, auf den noch zahlreiche folgen werden, die weiteren Akteure ins Bild, namentlich Egon Krause, der Familienvater, seine zweite Frau Annemarie, und die von Thomas hochschwangere Martha.
Zuerst zeichnet sich ein normales, positives Familienbild ab, das eine sich manchmal neckende, aber doch liebende und geschlossene Familie darstellt. Schon zu Beginn merkt man, dass das Stück in die Moderne gebracht wurde. Es ist die Rede von Autos, Avocados, E-Mails, Googlen und Handys. Als die gesamte Familie Krause zu viert einen Ausflug macht, um etwas für das kommende Baby zu kaufen, tritt Alfred Loth ins Bild, der ein Ex-Kommilitone und Mitbewohner von Thomas ist. Nach einer herzlichen Begrüßung kühlt die Situation jedoch merklich ab, da sie sich sehr auseinandergelebt haben: Alfred schreibt für eine linke Wochenzeitung und ist anscheinend aus beruflichen Gründen zu Besuch bei Thomas, während dieser den Vorstand der Firma der Krauses übernommen hat und sich sogar politisch für eine eigene rechtspopulistische Bewegung engagiert. Die Unterschiede zwischen den zwei ehemaligen Freunden, aber auch ihren politischen Richtungen, werden sofort deutlich: Alfred redet klar, schnell, kühl und präzise, während Thomas alles locker und emotional angeht, was beim Zuschauer zuerst eher Sympathien für Thomas weckt. Dieser stellt hier jedoch den klassischen Rattenfänger dar, der sich auf den ersten Blick zwar gegen die »Eliten« und für die Sorgen der einfachen Bürger einsetzt, durch seine Position aber eigentlich selbst zur Elite gehört. Thomas ist somit die »Metapher«, Alfred hingegen das »Trüffelschwein«, das jeden Stein unter der Prämisse der permanenten Empörung umdreht, um etwas Negatives zu berichten zu haben.
Ab Alfreds Besuch ist allerdings fast gar nichts mehr bei der Familie im Lot. Es gibt lautstarke Streitigkeiten, Martha zeigt immer mehr ihren Wahnsinn, Helene und Alfred fangen eine Liebelei an, die Alkoholsucht des Vaters nimmt Überhand, der Dorfarzt Peter muss sich immer öfter um Martha kümmern, und jeder in der Familie wird seinem Gegenüber immer fremder. Das Drama spitzt sich mehr und mehr zu, steuert die unvermeidliche Katastrophe an, und endet in einer sehr unangenehm treffenden Art und Weise – also genau richtig. Im Vordergrund steht die Familie und deren Probleme untereinander, im Hintergrund die konkurrierenden politischen Ideologien Thomas‘, Alfreds und Peters, der wohl den typischen Nach-mir-die-Sintflut-Nihilisten darstellt. Und über allem schwebt die schwarze Wolke der Depression, des Alkoholismus und der Bindungsangst.
Die zwei Stunden und 45 Minuten (inklusive Pause) dauernde, aber wie im Flug vergehende Aufführung glänzt mit einer engagierten, ausschließlich professionell agierenden Besetzung und einem kohärenten, aufs Nötigste reduzierten Plot. Die Charaktere sind karikaturenhaft und metaphorisch – es gibt zum Beispiel die stereotype, mental instabile Schwangere und den oft alkoholisierten Vater – fallen jedoch zu keiner Zeit durch reine Plattitüden auf. Das Ende schockt, rüttelt auf und tut weh, ist somit nichts für zarte Gemüter. Insgesamt ist Palmetshofers Neuauflage von »Vor Sonnenaufgang« sehr gelungen und kann aufgrund der aktuellen Thematik und der nachvollziehbaren Charaktere sogar für Theater-Muffel empfohlen werden.