Ein besonderer Wunsch an den Weihnachtsmann
Lieber Weihnachtsmann,
auch wenn du mich wahrscheinlich schon kennst: Ich bin der Leon aus der Augustusstraße 5 in Hamburg und bin acht Jahre alt. Und weil ich letztes Jahr nicht meine Power-Ranger- Figur bekommen habe, obwohl ich sie mir gewünscht habe, habe ich dieses Jahr einen ganz besonderen Wunsch, von dem ich aber nicht weiß, ob du ihn mir erfüllen kannst. Auch, wenn mir meine Lehrerin gesagt hat, dass du, als der Weihnachtsmann, jeden Wunsch erfüllen kannst. Es ist etwas, das ich mir nicht für mich selbst wünsche, sondern für alle Menschen auf dieser Welt, weil ich das Gefühl habe, dass sie dieses Geschenk vor allem jetzt in der Vorweihnachtszeit dringend brauchen: Zeit.
Von Kati Auerswald
Jeder redet über Zeit. Mein großer Bruder Timo sagt immer, er habe keine Zeit. Meine große Schwester Lena sagt immer so komische Sachen wie: Sie nehme sich gerne hierfür und dafür Zeit. Meine Mama klagt immer, sie habe nie für irgendetwas Zeit, weil sie den ganzen Haushalt machen müsse und ansonsten keine Zeit für irgendwelche anderen Dinge habe. Mein Papa meint darauf immer, dass niemand wirklich Zeit hat, wenn er sie sich nicht einfach nimmt. Manchmal sagt er dann noch Dinge, wie Zeit sei Geld und koste deshalb sehr viel. Er sagte aber auch schon einmal, dass Zeit unbezahlbar ist, was doch keinen Sinn macht, wenn sie nur viel kostet. Meine Oma und mein Opa haben viel Zeit. Besonders für mich, was sie mir auch immer sagen. Manchmal sagen sie, sie wissen nicht, wie viel Zeit sie noch haben, doch was genau sie damit meinen, verstehe ich nicht.
Aber sie reden nicht nur davon, wie viel oder wenig Zeit sie haben, ich sehe es auch – und nicht nur an ihnen. Sie rennen, alle rennen sie. Niemand geht mehr langsam, weil alle Menschen so im Stress sind. Wenn ich mit meiner Mama oder meinen Großeltern durch das Kaufhaus laufe, dann wird es immer gleich hektisch. Zu viel lautes Gerede, zu viel Gedränge in den Läden und an den Kassen. Wenn ich meine Klassenkameraden treffe, werden sie meist von ihren Müttern hinterhergezogen und nicht anders herum. Und dann schauen sie alle nur auf ihre kleinen Telefone und Geräte, anstatt nach links und rechts zu schauen. Als ich vor Kurzem mit meiner Mama einen heißen Kakao in einem Café in der Stadt getrunken habe, war es besonders schlimm. Die Leute saßen nebeneinander und sich gegenüber – und alle haben sie auf ihre kleinen Bildschirme gestarrt und getippt, anstatt miteinander zu reden. Wieso sind die Menschen in all der Weihnachtsflut voneinander umzingelt und klagen doch, sie wären alleine? Noch etwas, was gar keinen Sinn macht. Denn sie schauen sich ja nicht einmal mehr an; sie sagen weder »Hallo«, noch winken sie sich zu oder wünschen sich gegenseitig frohe Weihnachten. Stattdessen rauschen sie aneinander vorbei, während sie gleichzeitig, wenn sie nicht gerade auf ihre Handys starren, auf ihre Armbanduhren schauen, um zu sehen, wie viel Zeit sie noch haben – weil sie ja eigentlich gar keine Zeit haben. Gerade an den Wochenenden bin ich überrascht, dass sie sich dabei nicht gegenseitig umrennen.
Und dann ist da immer noch dieser »Stress mit den Weihnachtsgeschenken«, von dem jeder spricht, den ich genauso wenig verstehe. Ich dachte, die Leute müssten keine Geschenke kaufen, weil du das doch regelst. Dafür bist du doch da. Aber ob du das mit dem Schenken jetzt machst oder nicht: In der Weihnachtszeit sollte es doch nicht um den Stress gehen, den viele damit verbinden. Vor allem nicht, wenn man den Menschen, die man lieb hat, durch Schenken eine Freude bereiten möchte. Die Lena hat vor Kurzem meine Mama gefragt, ob sie unserem Papa denn etwas schenken müsse. Ich dachte immer, das Schenken an Weihnachten wäre etwas, was jeder freiwillig und gern macht, also warum hat sie denn dann von »müssen« gesprochen? Mir hat sie darauf jedenfalls keine Antwort gegeben. Das mit dem »Müssen« klingt so nach Pflicht. Und Pflicht klingt so nach Regeln. Irgendwie doof.
Aber kann man Zeit denn jetzt kaufen oder nicht? Kann man Zeit denn besitzen? Der Papa vom Felix aus meiner Schulklasse bezahlt andere Leute für ihre Zeit. Er bezahlt ihnen sogar viel, sagt mein Papa zumindest immer. Dafür, dass sie sich Zeit nehmen. Doch warum sagen dann andere, dass Zeit unbezahlbar? Wirst du denn auch für deine Zeit bezahlt, Weihnachtsmann? Oder bezahlst du, so wie Felix’ Papa, deine Elfen für ihre Zeit? Wenn du auch keine Zeit hast und gerne mal etwas Zeit für dich oder für deine Familie (die Elfen) haben möchtest, dann wünsch’ ich mir auch Zeit für dich.
Denn wenn alle Menschen mehr Zeit hätten, dann würden sie vielleicht erkennen, worauf es im Leben wirklich ankommt. Vielleicht würden sie dann langsamer und aufmerksamer durch die Stadt laufen, andere Menschen mit einem Lächeln begrüßen oder alten Damen über den Zebrastreifen helfen. Vielleicht würden sie mehr lachen und wären glücklicher. Vielleicht wären sie sich der wahren Bedeutung von Weihnachten bewusst. Auch wenn meine Mama gestern gesagt hat, dass heutzutage jeder etwas anderes unter »Weihnachten« versteht. War es denn mal anders?
Auf jeden Fall hoffe ich, dass du meinen Wunsch erfüllen kannst. Aber da ich weiß, dass du Wunder geschehen lassen kannst und ich fest an dich glaube, habe ich da keine Zweifel. Ich schreibe ja nicht umsonst an den Weihnachtsmann. Ach ja – und falls du meine Mama oder meinen Papa fragen solltest: Ich war immer brav und habe auf beide gehört. Es gibt also gar keinen Grund, wieso ich meinen Wunsch nicht erfüllt bekommen sollte.
Mit vielen Grüßen aus der Augustusstraße 5,
dein Leon
PS: Und falls das mit der Zeit doch nichts wird, wünsche ich mir die blaue Power-Ranger-Figur – nicht die rote.