Die letzte Nacht
Sie ließ ihre Augen durch das Zimmer wandern und hielt inne beim Blick auf den Blister mit den Tabletten und einem Glas Wasser direkt vor ihr auf dem kleinen, sonst nackten Tischchen neben dem Bett. Es war alles vorbereitet für ein Ende des alten Lebens. Die Wände waren frisch gestrichen und der Geruch der Farbe, irgendwie neu und eine Spur bitter, lag in der Luft. In der Ecke hinter der Tür hatten sich ein paar noch schlammige Tropfenklumpen gebildet, die im gedimmten Licht feucht schimmerten. Wenn man länger darauf schaute, sahen sie aus wie ein entferntes, verzerrtes Gesicht. Aber da war niemand. Sie war allein.
An der Tür hing ein Bild von Brian Molko. Er blickte mit irreal wirkenden, stark geschminkten Augen in die Leere des Raumes direkt an ihr vorbei. Wegen des starken Fokus auf das Gesicht war der Hintergrund verschwommen und nebelig. Das Poster war ihre einzige kleine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, ein unverzichtbares Relikt. Bei den meisten Dingen fiel es ihr leicht, los- und sie zurückzulassen. Sie waren schnell aus ihrem Leben und bald auch aus ihrer Erinnerung verschwunden. An anderen hing sie und deshalb blieben wenige noch da. Diese Überreste aber schienen wie mit einem dickflüssigen Etwas überpinselt. Das Ursprüngliche, das Eigentliche war nicht mehr zu erkennen. Ein filziger Teddy in Latzhosen mit abgerissenen Augen. Der Schreibtisch, den sie schon seit der dritten Klasse besaß und der verschiedene Spuren der Zeit trug, angeschlagene Ecken und Schrammen, abgeschliffene und dadurch unpersönlich gewordene Tischplatte. Trotz der Gebrauchsspuren war kein Verweis auf ihre Zeit als Kind oder Teenager zu finden. Auch sonst keine Fotos, keine Bilder, nur die nackte, neue Wand. Ihre Klamotten hatten in einer Reisetasche Platz, die in der linken hinteren Ecke des Zimmers stand.
Die anderen Gegenstände im Raum waren anonym. Die bunt gestreifte Bettwäsche, ein wackeliges Holzregal, ein Wippstuhl mit hellem Leinenbezug und Hocker mit Rollen vor dem Schreibtisch. Alles neu, alles von Ikea. Neu auch die Fachbücher zum neuen Studium an einer neuen Uni in einer neuen Stadt. Keine Vorhänge, die Jalousien geschlossen. Für das Draußen war sie nicht bereit.
Sie vergrub ihr Gesicht in ihren flachen Händen, die leicht zitterten. Die Bilder, die in ihr auftauchten, ersetzten für sie wie selbstverständlich die fehlenden Fotos. Was sie fühlte, für wen sie fühlte, das brauchte niemand anderes zu wissen. Sie hatte sich zwei Welten geschaffen und die eine ging dem Ende zu. Das Gefühl eines großen Verlusts stieg in ihr auf. Tapfer, geübt, drängte sie es wieder in die Tiefe. Was vorbei ist, ist vorbei. Die Vergangenheit, kaum zwanzig Jahre und doch eine Ewigkeit, war fest verschlossen in ihr. Sie hatte sich endgültig entschieden.
Als sie mit ihren Händen nach unten über ihr glattes Gesicht, den Hals, ihren schmalen Oberkörper streifte und sie in ihren Schoß legte, vermischte sich für ein paar Sekunden das Innere mit dem Äußeren. Ihre geöffneten Augen ließen zu, dass die Bilder in ihr Gehirn drangen. Sie blinzelte lange und versuchte so noch einmal, ihre alten Erinnerungen vor Neuem zu schützen. Ihre Lider verbargen ihre Gedanken, so wie ihre hohlen Hände das alte Geheimnis.
Sie schlug die Augen auf und fand ihren Blick wieder auf dem Tischchen. Nur eine Tablette, hatte der Arzt gesagt, frühestens nach zwei Stunden eine weitere, falls sie nicht richtig wirke. Und nur zur Beruhigung vor dem Schlafengehen. Es war ihre letzte Nacht als Mann, die letzte vor dem neuen Leben.
Text von: Birgit Bockschweiger
In der Schreibwerkstatt verfassen Studierende der Uni bei Professor Jürgen Daiber Kurzgeschichten und Prosa. Sie veröffentlichen
Texte in der Lautschrift und tragen am Semesterende ihre Texte bei einer öffentlichen Lesung vor.