stories | Matadora
Es ist still im Raum ohne Aussicht. Nur die Wanduhr tickt.
Der Sekundenzeiger bleibt kurz stehen, der Minutenzeiger springt um, der Sekundenzeiger setzt seine Runde fort.
Es ist zwei Minuten vor zwölf.
Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man Nebel und Beton.
Grau ist der Himmel, ist der Boden, sind die Häuser, sind die Menschen.
Grau ist keine schöne Farbe. Ich weiß nicht mal, ob es überhaupt eine Farbe ist.
Eher ein Zustand.
Ich schaue zurück auf mein weißes Blatt, schwarze Linien, Din A4, Collegeblock.
Das Kratzen der Kugelschreiber meiner Nachbarn zusammen mit dem Ticken der Uhr.
Ab und zu seufzt jemand.
Ich strecke meine Hände, betrachte dunkelrote Nägel, abgekaut, stumpf.
Schabe mit meinem Taschenmesser Nagellack vom Mittelfinger der rechten Hand.
Das Rot bröselt, verteilt sich über die Leere des Blattes vor mir.
Einmal habe ich mich mit der Brotschneidemaschine geschnitten, die Fingerkuppe meines Daumens hing in Fetzen. Das Blut tropfte auf den weißen Fliesenfußboden der Küche und alles, was ich dachte, war, wie wunderschön Rot auf Weiß aussieht.
Zwölf Uhr.
„Noch dreißig Minuten“, sagt die Frau vorne, die ich seit Jahren hasse.
Ihre langen Fingernägel, ihre Pumps, ihre violetten Augen, ihr Kassengestell.
Noch drei Minuten und ich bin raus hier.
Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen.
Meine Mitschüler sind Idioten. Rädchen in der Maschinerie.
Das Kratzen der Stifte übers Papier, zusammengekniffene Augen, Buckel vom Schreiben.
A kaut auf ihrer Lippe, B fummelt an seinem Daumennagel herum, C trommelt mit einer Hand auf seiner Skinny Jeans.
Die Frau vorne bemerkt jetzt meinen Blick.
Ich starre sie an, mit schmalen, blitzenden Augen.
Sie deutet auf die Uhr und zieht die Mundwinkel zusammen.
Sie scheint mit den Hufen zu scharren. Ein Stier vor dem Kampf.
Ich wickle meinen roten Schal um meine Schultern und lächle ihr zu.
Matadora.
Die, die tötet.
Die Frau öffnet den Mund.
Sie hat Angst, ich kann es sehen.
Immer wieder zieht sie die rechte Seite ihrer Unterlippe durch die Zähne und sie blinzelt zu oft.
Das ist Unbeholfenheit. Schwäche.
Ich ziehe einen Mundwinkel nach oben, den rechten und sehe die Frau an, ohne zu zwinkern.
Sie schluckt, es gibt ein trockenes, seltsames Geräusch, sie will sagen: Lass das.
Die Frau versucht, ihre Autorität wieder herzustellen.
Aber Autorität ist ein Fremdwort und ich mag keine Fremdwörter.
Später wird sie in Kameras stammeln.
Sie wird sagen: gestörte Soziabilität.
Sie wird sagen: psychopathische Grundzüge.
Sie wird sagen: Ich habe es nicht kommen sehen.
Ein schniefender Blick zum Publikum, Applaus bitte, Abgang der tragischen Heldin.
Nein.
Sie wird gar keine Chance mehr haben, etwas zu sagen.
Gleich heult sie.
Zwölf Uhr zwei.
Mit dem Taschenmesser ritze ich Kerben in mein Pult.
Mein Name, ein Datum. Die Signatur des Künstlers.
Die Polizei wird ermitteln und nichts finden.
Keine Komplizen, keine Aufrufe im Internet.
Wenn sie mich fragen, warum, werde ich lächeln und schweigen.
Der Fußboden ist grau wie der Nebel draußen.
Ein Zustand, keine Farbe.
Ich denke an Rot auf Weiß und wie schade es ist, dass es hier keine Fliesen gibt.
Ich betrachte meine leuchtenden Fingernägel, schiebe die Hände in die Jackentasche und schließe die Augen.
Dunkelheit.
Mit jedem Ticken der Uhr balle ich die Fäuste fester.
Ich weiß, es gibt kein Zurück mehr.
Ich lasse los.
Meine Stirn ist angenehm kühl.
Mein Herz schlägt ruhig und regelmäßig.
Meine Arme und Beine sind ganz schwer.
Ich öffne die Augen.
Jetzt.
„Du hast nichts?“, sagt die Frau. Spitze Stimme. Schrill.
„Ich habe nichts“, antworte ich, als ich ihr mein Papier reiche.
„Glaubst du nicht, dass es Zeit wird, sich ein bisschen reinzuhängen?“
„Glaube ich nicht.“
„Wie du meinst“, sagt die Frau und packt den Stapel Papier ein.
Die Uhr tickt.
Ich denke daran, wie sich meine Fingernägel in mein eigenes Fleisch bohren und kleine Halbmonde in meiner Handfläche hinterlassen.
Text: Kristina Pfister