»Ist das ein Mensch?« von Primo Levi

»Ist das ein Mensch?« von Primo Levi
Heute vor 80 Jahren bekam die Welt fürchterliche Verbrechen zu Gesicht: Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz, in dem mehr als eine Million Menschen ermordet wurden und das symbolisch für den industriellen Massenmord der Nationalsozialisten steht, von den Soldaten der Roten Armee befreit. Der italienische Jude Primo Levi, der bis zu diesem Tag selbst elf Monate in Auschwitz verbracht hatte, schrieb seine Erfahrungen in dem Buch »Ist das ein Mensch?« nieder.

von Markus Leschka

»Ist das ein Mensch?«, auf Italienisch »Se questo è un uomo«, erschien 1947 und handelt von Levis elfmonatigem Aufenthalt im KZ Auschwitz III Monowitz, einem Konzentrationslager, dessen Häftlinge in der angrenzenden Fabrik der I.G. Farben AG arbeiten mussten. Westlich davon lag Auschwitz II, das in aller Welt bekannte Vernichtungslager. Seinen Aufenthalt überlebte er als einer von sehr wenigen.

Außergewöhnliche Erzählweise

Wie Levi selbst in seinem Vorwort schreibt, war es ein innerer Impuls, seine Geschichte anderen Menschen mitteilen zu wollen sowie der Wunsch, die geschehenen Verbrechen zu verstehen, die ihn dazu bewegten, sein Buch zu schreiben.

Auffällig ist die sehr nüchterne und sachliche Erzählweise: Levi bringt gegenüber den deutschen Verbrechern keinen Hass zum Ausdruck, er verurteilt sie noch nicht einmal. In späteren Interviews sagte er dazu, dass es sein Ziel gewesen sei, das Urteil den Leser:innen zu überlassen. Trotz dieser Art des Erzählens gewinnt man einen tiefen Einblick in die Leiden des Protagonisten.

Der Mensch Levi wird zu Häftling Nummer 174517

Levi, der sich einer Partisanengruppe angeschlossen hatte, wird in den italienischen Alpen von SS-Leuten gefangen genommen. Nach dem Aufenthalt in einem italienischen Durchgangslager, werden er und mehrere Mitgefangene auf menschenunwürdige Weise nach Auschwitz transportiert, wobei viele der Gefangenen bereits sterben.

Bei ihrer Ankunft in Auschwitz müssen die Gefangenen, die bereits die gesamte Fahrt ohne Wasser auskommen mussten, lange Zeit in einem Raum mit nicht trinkbarem Wasser ausharren. 

Später müssen sie sich ausziehen, ihnen werden die Köpfe rasiert und sie bekommen eine Zahl tätowiert. Dann müssen sie die gestreifte Häftlingskleidung anziehen.

Levi ist Häftling Nummer 174 517. Im Gespräch mit anderen Häftlingen findet er jedoch heraus, dass das Lager nur über einige Zehntausend Plätze verfügt, was zu ersten düsteren Vorahnungen führt.

Detaillierte Einblicke in den Alltag im Lager

Im Verlauf des Buches gibt Levi viele detaillierte Einblicke in den Alltag im Lager: Er erzählt von der täglichen monotonen und kräftezehrenden Arbeit, von der Sprachenvielfalt im Lager, in der er kaum jemanden verstehen kann, von den geschriebenen und den ungeschriebenen Regeln – so darf man beispielsweise niemals Fragen stellen, und muss jede Demütigung ohne Widerrede über sich ergehen lassen. Levi erzählt von der Wichtigkeit von einfachen Alltagsgegenständen wie Löffel und Schuhen, und wie das eigene Leben an deren Intaktheit hängt.

In seltenen Fällen gibt es auch Solidarität unter den Gefangenen: So wird der körperlich überforderte Levi bei seiner harten Arbeit von dem Häftling Resnyk unterstützt. Im Großen und Ganzen gewinnt man jedoch den Eindruck eines ausbeuterischen Systems, in das viele Häftlinge involviert sind – etwa indem sie als Kapo fungieren –, da sie sich eigene Vorteile erhoffen.

Auch Levi sieht, dass wer am Leben bleiben will, die Regeln umgehen muss. Als studierter Chemiker hat er das Glück, nach einiger Zeit im Labor arbeiten zu dürfen, was ihn wahrscheinlich vor dem Tod bewahrt. 

Im letzten Kapitel berichtet Levi von den letzten Tagen vor der Ankunft der Roten Armee im Lager. Die Nazis organisieren einen Umzug für die noch im Lager verbliebenen Häftlinge, von dem diese nicht wissen, dass es ein Todesmarsch sein wird. Da Levi mit Scharlach im Krankenbau liegt, bleibt er in Auschwitz und erlebt so als einer von wenigen am 27. Januar 1945 die Befreiung des Lagers.

Ein Gedicht zur Mahnung:

Mit seinem Buch wendet sich Levi letztlich auch direkt an alle, die mit den Opfern des Holocaust scheinbar wenig zu tun haben. Auf der ersten Umschlagseite befindet sich ein von ihm verfasstes Gedicht, das wie folgt beginnt:

Ihr, die ihr gesichert lebet
in behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speisen findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mensch sei,
Der schuftet im Schlamm,
Der den Frieden nicht kennt,
Der kämpft um ein halbes Brot,
Der stirbt auf ein Ja oder Nein.

Fazit:

»Ist das ein Mensch?« ist ein Buch, das einen in tiefe Abgründe mitnimmt und häufig zum Schaudern bringt. Es ist sicherlich das Gegenteil jeder Art von Wohlfühllektüre, und stellenweise kostet es große Überwindung, überhaupt weiterzulesen.

Trotzdem ist es bereichernd. Denn was im Geschichtsunterricht oft bloß anhand von einfachen Fakten und Zahlen thematisiert wurde, bekommt hier ein Gesicht. 

Durch das Eintauchen in die Ereignisse von damals und die damit verbundene enorme emotionale Anforderung an die Leser:innen, ermöglicht »Ist das ein Mensch?« sein eigenes Geschichtsbewusstsein zu verändern und Erinnerungskultur bei sich selbst eine Heimat zu geben. Auch kann es dazu anregen – so ging es mir –, sich mit der Rolle seiner eigenen Familie in der NS-Zeit auseinanderzusetzen. 

Warum Bücher wie dieses wichtig sind:

Unsere NS-Vergangenheit geht uns alle an – und sie umgibt uns alle: So befand sich etwa im heutigen Regensburger Westenviertel das Fertigungswerk der Messerschmitt AG, in welcher während des Zweiten Weltkriegs im Akkord für den Krieg benötigte Kampfflugzeuge gebaut wurden, und das unter Verwendung der Arbeitskraft von Tausenden Zwangsarbeitern.

Die meisten Deutschen haben sich in der NS-Zeit zumindest als Mitläufer schuldig gemacht, was die gemeinsame Erinnerung der damaligen Verbrechen zu einer für uns heute wichtigen Aufgabe macht.

Daher wurde zur Erinnerung dieses besonderen Tages, der sich heute zum 80-sten Mal jährt, der 27. Januar, in Deutschland 1996 zum »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« erklärt, 2005 erklärten ihn die Vereinten Nationen dann zum »Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust«.

Doch während die zeitliche Distanz zu den damaligen Verbrechen wächst, steigt auch das Risiko der Entwicklung einer persönlichen und emotionalen Distanz. »Was haben denn wir Menschen heute mit denen damals noch zu tun?« ist eine in dieser oder ähnlicher Form häufig vernehmbare Äußerung – mittlerweile auch in der Politik.

Die Generation Z war wohl die letzte Generation, die das Privileg hatte, Zeitzeugen aus der NS-Zeit in ihren Schulen willkommen zu heißen und ihnen bei Großveranstaltungen zuzuhören. Da stellt sich die Frage, wie Menschen auch in Zukunft Geschichte weiterhin authentisch erleben können.

Will man in die persönliche Welt der Erinnerung von Zeugen der NS-Verbrechen eintauchen, so bieten sich darum wieder verstärkt Bücher wie dieses an, in welchen Überlebende des Holocausts ihre Erfahrungen schildern – und zu verarbeiten versuchen.


Titebild © Markus Leschka

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