Daddy Issues
Jungen Frauen wird häufig in abwertender, sexistischer oder sexualisierter Weise nachgesagt, »Daddy Issues« zu haben – vor allem, wenn sie bevorzugt ältere Männer daten. Doch welche psychologischen Mechanismen stecken tatsächlich hinter diesem Phänomen?
Von Julia Albrecht
»Daddy Issues, 100 Prozent – warum sonst schläft sie immer mit Typen, die ihr Vater sein könnten?«
Mit solchen Aussagen werden junge Frauen, die vorrangig ältere Männer daten, regelmäßig konfrontiert. Nicht selten in einem herablassenden Tonfall, oft verbunden mit sexistischen oder sexualisierenden Kommentaren.
Immer wieder zeigt sich, dass Frauen, deren Väter physisch oder emotional abwesend waren, im späteren Leben in belastete romantische Beziehungen mit älteren Partnerpersonen geraten. Aber was sind »Daddy Issues« wirklich und welche psychologischen Mechanismen stecken hinter diesem Phänomen?
Vertrauensprobleme und toxische Partnerwahl
Es ist wichtig zu betonen, dass »Daddy Issues« keine diagnostizierbare Krankheit ist. Dennoch weisen viele Betroffene vergleichbare Symptome auf, die oft tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Beziehungsgestaltung im Erwachsenenalter haben. Dazu gehören Vertrauensprobleme, exzessive Eifersucht und Verlustängste, häufig begleitet von einem übersteigerten Bedürfnis nach Liebe, Sicherheit und Anerkennung. Diese Muster können sich dann in falschen Entscheidungen bei der Partnerwahl widerspiegeln, oder aber auch in Schwierigkeiten, stabile Beziehungen einzugehen. Dies kann wiederum in einem Teufelskreis aus toxischen Beziehungen resultieren – oft mit älteren oder missbräuchlichen Partnern, die auf den ersten Blick Stabilität und Schutz suggerieren. Zusätzlich zu diesen Verhaltensmustern können »Daddy Issues« auch mit ernsthaften psychischen Problemen wie Depressionen, Angststörungen oder einem geringen Selbstwertgefühl einhergehen, was nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist.
Väterliches Versagen: Von Freud bis zum Imitationslernen
Wenn wir über »Daddy Issues« sprechen, geht es im Kern um väterliches Versagen und die Folgen einer schwierigen oder ungesunden Vater-Kind-Beziehung. Der Begriff »Daddy Issues« bezieht sich dabei übrigens nicht ausschließlich auf Frauen, sondern kann Personen jeden Geschlechts betreffen. Schon Freud postulierte in seinen psychodynamischen Theorien, dass der Vater eine zentrale Rolle in der psychosexuellen Entwicklung seines Kindes spielt, insbesondere im Rahmen des sogenannten »Ödipuskomplexes«. Da Freuds Theorien mittlerweile aber als veraltet gelten, wollen wir uns hier lieber mit zeitgemäßeren Theorien auseinandersetzen – und zwar mit solchen aus der Bindungsforschung.
Die Erlebnisse in unserer Kindheit prägen unsere Persönlichkeit und unseren weiteren Lebensweg. Man könnte sogar sagen, dass sie uns zu den Menschen machen, die wir heute sind. Dabei spielen unsere Eltern eine einzigartige, zentrale Rolle: Sie lehren uns nicht nur Alltägliches wie das Schuhebinden oder die Verwendung von Besteck, sondern auch, wie wir mit Emotionen und schwierigen sozialen Situationen umgehen. Bei alledem fungieren sie als direkte Vorbilder. Nach dem Prinzip des sogenannten »Imitationslernens« eignen sich Kinder bestimmte Verhaltensweisen ihrer Eltern durch bloßes Beobachten an, unabhängig davon, ob diese bewusst vorgelebt wurden oder nicht.
Vätertypen
Die Vater-Kind-Beziehung ist ein Schlüsselfaktor für die kindliche Entwicklung und kann tiefgreifende Auswirkungen auf das spätere Beziehungsverhalten haben. Konkret hat die Forschung sechs Typen von Vätern identifiziert, die als mögliche Prädiktoren für »Daddy Issues« gelten: Gewalttätige, kontrollierende und emotional abwesende Väter zählen genauso zu dieser Liste wie übermäßig verwöhnende, stark ängstliche oder von ihren Kindern physisch abhängige Väter. Während die ersten drei Vätertypen Angst und Misstrauen schüren, die Autonomie des Kindes einschränken und das Bedürfnis nach Nähe unerfüllt lassen, wirken sich auch die letzten drei negativ auf die kindliche Entwicklung aus: Sie nehmen dem Kind Grenzen und Eigenständigkeit, untergraben sein Selbstvertrauen oder überfordern sein Rollenverständnis.
Bindungstheorie
Ein tieferes Verständnis dieser Zusammenhänge bietet die Bindungstheorie von Bowlby und Ainsworth. Laut dieser entwickelt jeder Mensch ein bestimmtes Bindungsmuster, das durch die frühkindliche Beziehung zu Bindungspersonen – wie etwa dem Vater – geprägt wird und späteres Verhalten in Partnerschaften beeinflussen kann. Somit lässt sich ein klarer Zusammenhang zwischen Bindungstypen und den oben beschriebenen Symptomen des Phänomens »Daddy Issues« herstellen:
Personen mit dem sogenannten »unsicher-vermeidenden Bindungstyp« können beispielsweise durch einen emotional abwesenden Vater in ihrer Kindheit gelernt haben, dass emotionale Zuwendung auf Ablehnung stößt. Dies kann zur Folge haben, dass sie im Erwachsenenalter Schwierigkeiten damit hat, intensive Bindungen einzugehen, Nähe zuzulassen oder Vertrauen zu anderen Leuten aufzubauen.
Im Gegensatz dazu neigen Menschen mit »unsicher-ambivalentem Bindungstyp« zu starker Abhängigkeit in Beziehungen, die sich in Verlustängsten, aber auch einem starken Bedürfnis nach Bestätigung äußern kann. Solche Muster sind auf ambivalentes, also zwischen Nähe und Abweisung schwankendes, Verhalten der Bindungsperson (in diesem Fall des Vaters) zurückzuführen.
Als drittes gibt es noch den »desorganisierten Bindungstyp«. Dieser tritt auf, wenn ein Kind die Beziehung zur Bindungsperson als bedrohlich und gefährlich erlebt – etwa durch Missbrauch oder Gewaltausbrüche, und kann bei den Betroffenen in unvorhersehbaren und destruktiven Verhaltensweisen in Stresssituationen resultieren.
Fazit
Diese Erkenntnisse aus der psychologischen Bindungsforschung machen deutlich, wie entscheidend die Vaterrolle für die Entwicklung von Bindungsmustern ist – und wie diese letztlich die Dynamik und Stabilität späterer Beziehungen beeinflussen können.
Der Begriff »Daddy Issues« hängt unmittelbar mit belastenden oder gar schmerzhaften Kindheitserfahrungen zusammen. Lasst uns also auf einen sensiblen Sprachgebrauch achten, um diese komplexen Hintergründe weder zu verharmlosen noch Betroffene für ihre Beziehungsmuster abzuwerten oder zu stigmatisieren.
Titelbild: ©AnnieSpratt | unsplash.de
Für Interessierte:
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-211-99131-2_1183
https://www.zeit.de/kultur/2020-08/daddy-issues-vaterkomplex-naivitaet-vorwurf
https://praxistipps.focus.de/was-sind-daddy-issues-bedeutung-und-anzeichen-erklaert_164394
https://www.attachmentproject.com/attachment-theory/
https://gofeminin.de/mein-leben/daddy-issues-bedeutung