Die Farbe deiner Gefühle
Emotionen sind ein fundamentaler Bestandteil unseres Menschseins, doch was sie genau bedeuten und wie sie sich anfühlen, ist zutiefst individuell. Wie unterscheiden sich Emotionen von Mensch zu Mensch und wie kommt diese Einzigartigkeit zustande?
Von Louis Müller
Hass, Freude, Wut, Liebe, Trauer, Lust – wir alle kennen diese Begriffe und verbinden mit ihnen persönliche Erfahrungen und Erinnerungen. Wir haben eine Vorstellung davon, wie sich diese Emotionen anfühlen. Doch die Wahrnehmung von Gefühlen variiert von Mensch zu Mensch erheblich. Wenn wir über Emotionen sprechen, verwenden wir vielleicht dieselben Wörter, meinen jedoch vollkommen unterschiedliche Zustände. Emotionen sind vergleichbar mit Farben: Die meisten Menschen kennen die Farbe Rot, aber woher wissen wir, ob Rot für alle gleich aussieht? Wir wissen es nicht – und dasselbe gilt für Emotionen. Studien belegen, dass Emotionen und ihre Wahrnehmung ebenso einzigartig sind wie die Menschen selbst.
Definition von Emotionen
Eine einheitliche Definition von Emotionen existiert in der Wissenschaft nicht. Häufig werden sie als psychologische Phänomene beschrieben, die sowohl messbare körperliche Reaktionen als auch ein nicht messbares Erleben umfassen, das sich nur im resultierenden Verhalten zeigt. Emotionen lassen sich dabei in Kategorien einteilen: Unter Basisemotionen versteht man angeborene Emotionen mit sehr typischen, resultierenden Verhaltensmustern. Dazu zählen Freude, Angst, Trauer, Wut und Ekel. Diese Gefühlszustände sichern evolutionsbedingt das Überleben. Darüber hinaus gibt es Sekundäremotionen, die erst in der frühen Kindheit erlernt werden und jeweils eine Mischung aus den Basisemotionen sind, z. B. Scham, Stolz oder Verlegenheit.
Emotionen und Kulturen
Das Erleben der Basisemotionen unterscheidet sich jedoch von Mensch zu Mensch stark und wird mit dem Älterwerden immer mehr von Erfahrungen und Prägungen beeinflusst. Während zum Beispiel in allen Kulturen der Erde Babys Wut noch sehr ähnlich durch Schreien ausdrücken, entwickelt sich dieses Verhalten bereits im Kinder- und Jugendalter in verschiedene Richtungen. In individualistischen Kulturen wie den USA oder auch Deutschland wird der Ausdruck von Wut als Zeichen der Durchsetzungskraft und Stärke verstanden und gehört daher zur alltäglichen Kommunikation. Offen gezeigte Wut geht hier oft mit der Empfindung von Selbstbewusstsein einher. In kollektivistischen Kulturen, wie in China oder Korea, wird dies jedoch vielmehr als unangenehm und übergriffig wahrgenommen. Das Empfinden von Wut löst in den meisten Menschen dort eher Scham und Trauer aus.
Wie sich Emotionen unterscheiden
Doch auch innerhalb von Kulturen existieren starke Unterschiede im Ausdruck und im Empfinden von Emotionen. Ein Faktor dabei ist der individuelle Hormonhaushalt. Das im Volksmund als »Sozialhormon« bezeichnete Oxytocin wird mit einem erhöhten Einfühlungsvermögen und Empathie in Verbindung gebracht. In Experimenten steigerte es messbar das empfundene Mitleid der Teilnehmenden gegenüber Menschen in extremen emotionalen Situationen und hat daher einen verstärkenden Effekt auf die Wahrnehmung von Verbundenheit und Mitgefühl. Menschen mit einem höheren Oxytocinspiegel nehmen also Mitleid tendenziell anders und stärker wahr. Auch weitere Hormone wie Testosteron oder Serotonin verändern nachweislich emotionales Erleben und Verhalten wie das Hierarchiestreben oder die Aggressivität.
Wahrnehmung von Liebe
Selbst das höchste der Gefühle, die Liebe, könnte individueller nicht sein. Manche Menschen erleben diese als Zustand im Rausch und der intensiven Emotionalität. Es entsteht eine enorme Fixierung auf den Partner oder die Partnerin und vor allem sexuelle Gefühle dominieren. Andere Menschen empfinden Liebe als einen Zustand der Ruhe und Stabilität und pflegen eine intensive und eher freundschaftsähnliche Bindung. Diese Wahrnehmung kann sich im Laufe des Lebens und in langen Partnerschaften verändern.
Emotionen sind also sehr individuell und dynamisch und unterscheiden sich von Mensch zu Mensch stark in ihrer Ausprägung, Intensität und im resultierenden Verhalten. Diese Unterschiede sind dabei abhängig von Kultur, Geschlecht und Erfahrungen und verändern sich im Verlauf des Lebens.
Titelbild © Olivia Rabe