Die Scham muss die Seite wechseln – Der Pelicot-Prozess und der Kampf um Gerechtigkeit
Gisèle Pelicot wurde über ein Jahrzehnt von ihrem Ehemann systematisch missbraucht und von fremden Männern vergewaltigt. Jetzt kämpft sie öffentlich dafür, dass die Verantwortung dorthin verschoben wird, wo sie hingehört – zu den Tätern und einem versagenden System.
von Paula Dowrtiel
Der Fall Gisèle Pelicot hat nicht nur in Frankreich, sondern weltweit für großes Entsetzen gesorgt. Über ein Jahrzehnt hinweg wurde die heute 72-jährige Gisèle Pelicot von ihrem damaligen Ehemann Dominique Pelicot systematisch unter Drogen gesetzt und anschließend von ihm sowie von zahlreichen anderen Männern vergewaltigt. Insgesamt erlitt sie mehr als 200 sexuelle Übergriffe, oft durch Fremde, während Dominique Pelicot die Taten filmte. Neben ihm stehen nun 50 weitere Männer vor Gericht, die an den Verbrechen beteiligt gewesen sein sollen.
Wir sind keine Monster. Wir sind Männer wie alle anderen auch – Paul G.
Die Gravur des Falles zeigt sich auch in den Profilen der Angeklagten. Die Männer sind aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, Altersstufen und Berufen, darunter Krankenpfleger, Bäcker, LKW-Fahrer und Bauarbeiter. Die Mehrheit hat eigene Familien und Kinder – mehr als zwei Drittel der Angeklagten sind Väter. In den französischen Medien wird der Begriff »Monsieur Tout-le-Monde«, zu deutsch »Herr Jedermann« benutzt. Ein Name, welcher verwendet wird, um die Normalität und Durchschnittlichkeit der Angeklagten zu betonen. Der Begriff verdeutlicht, wie tief sexistische und gewaltvolle Strukturen im alltäglichen Leben verwurzelt sind.
Ich habe eine große Garantie vergessen: das Einverständnis der Madame – Dominique D.
Dominique Pelicot legte ein Geständnis ab und gab zu, seine Ex-Frau unter Drogen gesetzt und vergewaltigt zu haben. Die meisten der weiteren Angeklagten streiten ab, Gisèle Pelicot missbraucht zu haben, sie behaupten beispielsweise von Dominique Pelicot getäuscht worden zu sein. Aussagen wie: »Ich bin ein Vergewaltiger, weil das Gesetz es sagt« oder »Ich wusste damals nicht, was Zustimmung bedeutet«, zeichnen ein Bild von Ignoranz und mangelnder Verantwortung. Patrick A., einer der Mitangeklagten, schildert, wie Dominique Pelicot ihm über ein Chatforum erklärte: »Ich suche einen perversen Komplizen, um meine Frau zu missbrauchen. Sie nimmt Schlaftabletten, und ich nutze das aus.« Patrick A. habe darauf geantwortet:» OK.«
Die Scham gehört nicht uns – Gisèle Pelicot
Gisèle Pelicot tritt im Prozess öffentlich auf und zeigt der Welt ihr Gesicht, während sich die Angeklagten unter tiefen Kapuzen oder Aktenordnern verbergen. Ihre Botschaft ist klar. Nicht die Opfer, sondern die Täter müssen sich schämen. Sie betitelt den Gerichtsprozess als »den Prozess der Feiglinge.« Gisèle Pelicot will mit dieser Einstellung andere Opfer ermutigen, ihre Stimme zu erheben und die gesellschaftliche Wahrnehmung von Vergewaltigungen verändern. »Heute kennt man meinen Namen in der ganzen Welt. Seiner aber wird vergessen sein.« Mit dieser Aussage verdeutlicht sie die unterschiedliche Behandlung von Tätern und Opfern in der öffentlichen Wahrnehmung. Während Gisèle Pelicot als Opfer und Kämpferin langfristig in Erinnerung bleiben wird, werden die Täter in der Anonymität verschwinden.
Es ist an der Zeit, dass wir unsere Sicht auf Vergewaltigungen ändern – Gisèle Pelicot
Mit den Worten: »Es ist nicht an uns, sich zu schämen, sondern an ihnen.« fordert Gisèle Pelicot die Gesellschaft auf, die Verantwortung nicht länger bei den Opfern zu suchen. Diese müssen geschützt und Täter, sowie das System, welches diesen allzu oft Schutz bietet, zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist nun an der Zeit, die richtigen Konsequenzen zu ziehen: rechtlich, gesellschaftlich und individuell. Die Scham gehört denen, die weggesehen, ignoriert und gehandelt haben – nicht den Opfern, die für ihre Würde kämpfen.
Titelbild © Sophia Mayer
Quellen:
https://www.theguardian.com/world/2024/oct/23/a-soldier-a-nurse-a-lorry-driver-and-dozens-more-who-are-the-men-accused-over-and-assault-of-gisele-pelicot
https://www.nytimes.com/2024/11/27/france-mass-rape-pelicot.html
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/pelicot-prozess-frankreich-100.html