True Crime – Ein voyeuristisches Massenphänomen?
Immer mehr Menschen umgeben sich im Alltag durch Bücher, Podcasts oder Serien mit realen Verbrechen. Bild: Olivia Rabe
Ob Podcasts, Serien, Dokumentationen oder Bücher – in den letzten Jahren haben True-Crime-Formate immer mehr an Popularität gewonnen und sind aus der Unterhaltungsbranche nicht mehr wegzudenken. Doch warum sind wir so fasziniert von realen Verbrechen? Und ist es ethisch überhaupt vertretbar, die intimsten, traumatischsten Erlebnissen anderer Menschen für kommerzielle Zwecke auszuschlachten?
Von Julia C. Albrecht
Zwischen 1978 und 1991 hat der US-Serienmörder und Sexualstraftäter Jeffrey Dahmer, auch bekannt als »Milwaukee-Kannibale«, 17 Jugendlichen und jungen Männern das Leben genommen. Die ganze Welt kennt seinen Namen – nicht zuletzt, weil sein Leben und seine Taten Gegenstand zahlreicher True-Crime-Formate geworden sind; darunter die fiktionalisierte Netflix-Serie »Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer«, die weltweit große Resonanz erzielte. Sich mit Dahmers Verbrechen auseinanderzusetzen, ist kein angenehmes Unterfangen: Schließlich wird man dabei zwangsläufig mit extremer Gewalt, Mord, Kannibalismus, Nekrophilie und Leichenverstümmelung konfrontiert. Dennoch ist »Dahmer« Stand November 2024 mit 115,6 Millionen Streams global die dritterfolgreichste Netflix-Serie aller Zeiten.
Aber auch Podcasts wie »ZEIT Verbrechen«, Fahndungssendungen wie »Aktenzeichen XY« oder Bücher wie »In Cold Blood« werden den meisten von euch vermutlich zumindest vom Namen her bekannt sein. True-Crime-Formate sind äußerst beliebt – und das nicht erst seit gestern. Bereits in der frühen Neuzeit fanden Berichte über wahre Verbrechen ihren Weg in die Öffentlichkeit, vor allem durch Flugblätter, die skandalöse und erschütternde Taten verbreiteten. Doch besonders nach der Entdeckung des Internets erlebte das True-Crime-Genre einen regelrechten Boom. Durch Online-Medien und soziale Netzwerke wurde es immer einfacher, True-Crime-Inhalte zu konsumieren und zu teilen. Heutzutage ist es vor allem eine Trias aus Print, Podcasts und Fernseh- bzw. Streamingserien, die Erzählungen über wahre Verbrechen der breiten Masse zugänglich machen. True-Crime-Formate sind unlängst ein unverzichtbarer Teil der modernen Unterhaltungskultur geworden, mit einer stetig wachsenden Zahl an Fans.
Doch warum widmen wir unsere Freizeit solch düsteren Themen? Ist es pure Sensationslust, die uns dabei antreibt? Oder gibt es tiefere psychologische Gründe für unser Interesse an der dunklen Seite der menschlichen Natur?
Faszination für das Extreme
Es ist kein Geheimnis, dass wir Menschen uns von Themen angezogen fühlen, die gesellschaftliche Normen überschreiten und Tabus in den Mittelpunkt stellen. Die Auseinandersetzung mit Grenzüberschreitungen eröffnet uns neue Perspektiven und kontrastiert im selben Atemzug unsere alltägliche Lebensrealität, in der schockierende Verbrechen in der Regel (zum Glück) nur selten vorkommen. Verstehen zu wollen, wie Menschen in Extremsituationen handeln, welche Entscheidungen sie angesichts moralischer Dilemmata treffen und welche Motive oder Mechanismen hinter abweichendem oder gar makabrem Verhalten stehen, ist ein natürlicher Impuls unserer Psyche.
Gefahrerlebnis aus sicherer Distanz
Auch aus evolutionspsychologischer Perspektive lässt sich das Interesse an echten Verbrechen einfach erklären: Die Auseinandersetzung mit realen Gefahren war und ist seit jeher eine wichtige Überlebensstrategie. Indem wir uns mit bedrohlichen Situationen befassen, lernen wir, künftige Risiken und Warnsignale besser erkennen und einschätzen zu können. Dies hilft uns, unser eigenes Überleben zu sichern, ohne dafür selbst in eine bedrohliche Lage geraten zu müssen.
True-Crime-Formate bieten uns die einmalige Gelegenheit, echte Verbrechen aus sicherer Distanz mitzuverfolgen. Dabei werden Adrenalin, Dopamin und Endorphine in unserem Körper ausgeschüttet – ein Hormoncocktail, der den Drang verstärkt, bis zur endgültigen Aufklärung des Falls weiter dranzubleiben. Dieser Effekt wird durch die spannungsgeladene Struktur von True-Crime-Erzählungen nur noch verstärkt: Die episodische und dramaturgisch durch Wendungen, Rückblenden und Cliffhanger ausgeschmückte Analyse eines Kriminalfalls reißt das Publikum nicht nur emotional mit, sondern vermittelt diesem zugleich das Gefühl, aktiv an der Geschichte teilzuhaben und mit den Ermittelnden »miträtseln« zu können.
Vom Serienkiller zum Popstar
Neben Nervenkitzel, Spannung und intensiven Gefühlen wie Angst und Schrecken rufen True-Crime-Erzählungen bei den Zuschauenden oft auch Mitgefühl und tiefe Empörung über das erlittene Leid und die erlebte Ungerechtigkeit. Diese Empörung nährt das Bedürfnis, noch mehr über die Tat und die Beweggründe des Täters erfahren zu wollen. Die Faszination für True-Crime-Geschichten rührt oft daher, dass wir in den Kopf des Täters blicken und verstehen wollen, warum er zu solch schrecklichen Taten fähig ist. Viele True-Crime-Formate greifen diesen Impuls auf, indem sie detaillierte Einblicke in die Biografie des Täters bieten – sei es durch dessen Kindheit, psychische Probleme oder traumatische Erlebnisse. Auf diese Weise wird Tätern allerdings automatisch eine Plattform zur Rehabilitierung geboten, die das Potenzial hat, die eigentliche Schwere ihrer Verbrechen zu relativieren und von dem Schicksal der Opfer abzulenken.
Gerade bei berühmt-berüchtigten Serienmördern wie Jeffrey Dahmer lässt sich ein paradoxes Phänomen betrachten: Trotz der unvorstellbaren Grausamkeit seiner Taten gibt es Menschen, die Dahmer glorifizieren und romantisieren, als wäre er ein gefeierter Popstar. In vielen True-Crime-Dokumentationen und -Serien wird Dahmer nicht als Monster, sondern als komplexe Persönlichkeit mit tragischer Vergangenheit dargestellt. Diese Stilisierung als »tragische Figur« weckt Empathie und kann zu einer ungesunden Faszination für den Mörder führen, die über das bloße Interesse an seinen Taten hinausgeht.
Fazit und Reflexion
Alles an allem lässt sich sagen, dass die Faszination für wahre Verbrechen ein vielschichtiges Phänomen darstellt, das sich nicht auf bloße Sensationslust zurückführen lässt. Stattdessen hat es tiefe psychologische Wurzeln, die auf evolutionäre, emotionale und kognitive Bedürfnisse zurückgehen. Dennoch ist kritisch zu hinterfragen, was der Reiz an True-Crime-Geschichten über unseren gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt und Verbrechen aussagt und welche Verantwortung Medien bei der Darstellung echter Kriminalfälle tragen.
Meiner persönlichen Meinung nach sind True-Crime-Formate nicht pauschal als voyeuristisch abzustempeln: Schließlich können sie wie im Fall von »Dahmer« auch zum Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände und zur Reflexion revisionsbedürftiger Polizeipraxis dienen. Über Gewalt zu sprechen ist wichtig – nur so können wir den Umgang mit ihr lernen. Dennoch darf nie vergessen werden, dass hinter True-Crime-Fällen stets echte Menschen stecken. Ein respektvoller, sensibilisierter Umgang mit den Opfern und deren Angehörigen wie auch eine fundierte, wahrheitsgetreue Darstellung realer Verbrechen und derer Konsequenzen sind für mich unerlässlich. Denn Tätern grundlos eine Plattform zu bieten und das grausame Schicksal echter Menschen für kommerzielle Zwecke auszuschlachten, darf aus journalistischer, medienethischer wie auch menschenrechtlicher Perspektive niemals eine tolerierte Praxis sein.
Beitragsbild: Olivia Rabe
Für Interessierte:
https://forum-opferhilfe.de: Beiträge über True-Crime
https://www.macromedia-fachhochschule.de/de/beratung/ratgeber/faszination-true-crime/
»Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer« (Netflix-Serie): https://www.netflix.com/de/title/81287562
»ZEIT Verbrechen« (Podcast): https://open.spotify.com/show/3gZaAYXAQAh09UlKbYaK49
»Aktenzeichen XY« (Fahndungsserie): https://www.zdf.de/gesellschaft/aktenzeichen-xy-ungeloest
»In Cold Blood« – Truman Capote (Buch): https://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/A1001299006