Menschliche Glühbirne

Menschliche Glühbirne

Die Erfindung der Glühbirne hat die Menschheit revolutioniert. Durch das Glas kann man dem Draht beim Leuchten zusehen. Er brennt sich in die Netzhaut ein. Wo ist der Schalter?

Von Ida Müermann

Ich stehe vor der Glaswand des Spiegels und drehe mich mit mir selbst. Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Betrachtest du mich heute noch? Ich bin nicht für dich, ich bin schön für mich. Und vielleicht auch schön genug, um heute Nacht die Einsamkeit zu vertreiben. Seitdem du gegangen bist, wärmt sie deine Betthälfte. Manchmal reicht sie mir auch eine kalte Hand und nimmt mich zärtlich in den Arm. Doch keine Arme sind so weich wie deine. Ich muss los, ein paar neue Arme finden für die Nacht. Schuhe, Schlüssel, Schal, der Herbst ist eingezogen. Meine Schuhe gehen durch die Stadt und werden von Gelächter angezogen. Vorfreude in mir, Menschenschein und Lichtermassen um mich herum. Samstagabend, alle wollen trinken, reden, tanzen, ich bin dabei und mittendrin. Welche Bar zuerst? Hände halten anmutig halbvolle Weingläser und glühende Zigaretten. Ein Blick durch die beschlagene Scheibe lockt mich einzutreten. Die Tür ist auf der anderen Seite. Meine Hände ziehen am Griff, ziehen, ziehen, er – bewegt sich nicht.

Klopfklopf.

Meine Finger senden ein vorsichtiges Signal. Sie möchten gerne nach drinnen, drinnen ist es warm und hell. Dunkel nur draußen vor der Tür. Da stehe ich. Reicht der Lichterschein nicht bis zu mir?

Ich stehe hinter der Glaswand und sie zwischen uns. Egal, wie laut ich lächle, ihr könnt mich nicht hören auf der anderen Seite. Verstört weiche ich einen Schritt zurück.

Mein Spiegelbild kommt mit.

Die Glaswand kommt mit

und beginnt mich zu umschließen. Aber ihr seht es nicht, kennt mich nicht, vielleicht traust du dich? Du bist so nah und meine Schuhe finden den Weg von allein. Ausgetretene Pfade. Deine vertraute Tür taucht zwischen den Straßenlaternen auf. Kannst du das Glas durchbrechen, bevor es mich erstickt? Ich hebe die Hand an die Tür, ich

– ich trau mich nicht.

Die Finger sinken nach unten und die Wand bricht über mich herein. Ich würde gerne atmen, doch meine Lunge findet keine Luft, da ist nur Wand, Glas, Luft? Meine Lunge zieht und keucht und kämpft, doch das Glas ist zu stark. Stärker als ich, es drück auf mich und in mich hinein. Ende, bitte aufhören! Ich will nicht ersticken! Ich will atmen. Atmen? Einfacher Vorgang des Körpers. Als Atmung bezeichnet man den passiven und aktiven Transfer von Sauerstoff aus Umgebung in den Körper. Die Lunge ist anatomisch für den Sauerstoffaustausch optimiert.

Ein – aus.

Nochmal, langsam. Ein – aus. Ein – aus. Atmen.

Ich bin nicht erstickt.

Das Glas ist jetzt ein Teil von mir. Der Heimweg zieht sich und die Scherben durch meine Blutbahnen. Ich streiche über meinen Augenwinkel, das ist keine Träne. An meinem Finger bleibt ein durchsichtiger Splitter hängen, ein kleiner Zahn im großen Gebiss. Die Einsamkeit hat Hunger. Fütterungszeit. Ich werde von ihr ausgehöhlt von den Fußspitzen bis zu den Stirnfalten, es bleibt nur eine leere Hülle aus Haut zurück. Würde man ein Licht in mir anzünden, dann scheint es rosa durch, wie Pergament. Menschliche Glühbirne.

Die Erfindung der Glühbirne hat die Menschheit revolutioniert. Durch das Glas kann man dem Draht beim Leuchten zusehen. Er brennt sich in die Netzhaut ein. Wo ist der Schalter?

Klick- Klack.

Hell- Dunkel.

Ein – aus.

Während ihr mich einschaltet, werde ich ausgelöscht.


Beitragsbild ©Valentin Brosda/Ida Müermann

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