Reichskanzlerplatz – deutscher Buchpreis 2024
Buntes Buch, dunkler Inhalt. Vom Risiko, das die diesjährige Nominierte des deutschen Buchpreises, Nora Bossong, mit ihrem Roman „Reichskanzlerplatz“ eingegangen ist.
von Greta Kluge
Die Handlung
Ein Drahtseilakt ist der Roman von Nora Bossong, der für den diesjährigen deutschen Buchpreis nominiert war. Auf mehreren Ebenen tänzelt „Reichskanzlerplatz“ auf einem dünnen, bis zum Bersten gespannten Seil. Es erzählt die Geschichte des Liebhabers der Frau, die später als Magda Goebbels in die Geschichte eingehen wird. Sie beginnt mit der Beschreibung der Kindheit von Hans Kesselbach, der Hauptperson. Man merkt der Art und Weise wie Nora Bossong schreibt, beschreibt und den Lesenden eine spezielle Perspektive auf die Welt vorschreibt schon die spätere Dramatik von Kesselbachs Geschichte an. Der aufwachsende Hans Kesselbach, der homosexuelle Neigungen an sich betrachtet, lernt, sie mit einer gewissen lethargischen Panik zu verstecken. Er ist verliebt in einen Jungen, Hellmut Quandt, aus reicher Familie, der eine gewisse Zeit die Zuneigung als Freundschaft interpretiert. Hellmut wird sich dann aber der wahren Gefühlslage seines Klassenkameraden bewusst, er fängt an ihn aus seinem Leben zu stoßen. Hans realisiert, dass er in dieser Welt nur überleben kann, wenn er allein bleibt. Allein mit den Lügen, die er erfindet, um akzeptiert zu werden. Allein in all den Versuchen, seine Neigung zu verstecken. Aber er weiß auch, dass er nicht allein ist mit dem Wissen um seine Homosexualität. Hellmut Quandt und seine Stiefmutter Magda Quandt wissen davon und so sollen sie in seinem Leben auch eine Rolle spielen. Mehr oder weniger ist er immer von ihnen abhängig. Es ist ein Drahtseilakt der Beziehungen und der Gefühle. Magda Quandt wiederum bleibt nur für die ersten 120 Seiten des Buches „Madame Quandt“, wie Hellmut seine Stiefmutter nennt, die für ihn mehr wird als nur dieser Titel beschreibt. Sie war Geliebte ihres Stiefsohnes und wird es später auch für Hans. Aber anders als bei Hellmut, geht er die Beziehung eher aus Selbstschutz ein und weil er so die Verbindung zu seiner unerfüllten Liebe halten kann. Magda trennt sich in einer hässlichen Scheidung von ihrem Mann, zieht an eine Adresse, die dem Buch seinen Titel gegeben hat: „Reichskanzlerplatz“ (heute: Theodor-Heuss-Platz). Ein Drahtseilakt, wie lange Hans Magda dann noch halten kann. Irgendwann verliert er sie an Joseph Goebbels. Von da an ist sein Leben ein einziges Balancieren in schwindelnden Höhen und man erkennt: er hat furchtbare Höhenangst. Hinter der Maske eines hohen NS-Diplomaten versteckt Hans sich selbst, seine wahren Überzeugungen. Man stürzt mit ihm in ein Durcheinander von Handlungen, die nicht auf seinen Ansichten basieren, von alten und neuen Freundschaften, von Loyalitäten in verschiedene Richtungen und verschiedener Intensität. „Reichskanzlerplatz“ ist neben der Charakterisierung dieser Zeit eine Charakterisierung eines bedrohten, verzweifelten Mannes, der selbst, so scheint es, nie einen richtigen Charakter finden konnte.
Der Schreibstil
Nora Bossong, die mit diesem Thema einen Drahtseilakt begeht, bedient sich einer präzisen, kalten Sprache, die die Lesenden in eine Leere stürzt. Bossong macht das Lesen körperlich, man schaudert, man bebt, man fröstelt. Das Einzige, was fehlt, sind Gefühle. Man findet keinen Halt, keine Emotionen zwischen den Zeilen, weil es für keinen der Charaktere, für niemanden in dieser Zeit Halt gab. Emotionen spüren und ausleben war gefährlich, lebensbedrohlich. Man fürchtet sich „Reichskanzlerplatz“ zuzuklappen, denn man könnte ja von dem dünnen, bis zum Bersten gespannten Seil fallen, wenn die Emotionen und Angst einen die Kontrolle verlieren lassen.
Der Hintergrund
Alle Hauptprotagonisten des Buches lebten wirklich. Joseph Goebbels, Magda Goebbels und tatsächlich auch der Liebhaber Magda Goebbels, der allerdings Fritz Gerber, nicht Hans Kesselbach hieß. Der Grundpfeiler der Geschichte, Magda Goebbels ist ein berühmtes und beliebtes Subjekt in der Literatur. Ihre Geschichte, ihre jüdischen Adoptiveltern, dass sie selbst in der Schulzeit mit Judenstern herumlaufen musste. Dass sie nichts dagegen tat, dass ihr Adoptivvater Richard Friedländer in Buchenwald ermordet wurde. Ihre Jugendbeziehung zu einem Zionisten, ihre Scheidung, ihr Aufstieg zur „Mutter der Nation“ und all ihre Ambitionen und Brüche wurden literarisch durchleuchtet, fiktional und non-fiktional zum Thema gemacht. „Reichskanzlerplatz“ reiht sich deshalb nicht ein in die, man möchte fast schon sagen Ikonisierung, da es eine andere Person in den Vordergrund stellt. Der Fokus dieses Romans liegt auf einem ungesehenen Schicksal. Man neigt dazu, wenn man auf die NS-Zeit schaut, Geschichten hinter den Personen zu vergessen. Es sind nur Gesichter, die entweder schwarz oder weiß sind. Man vergisst Zwischentöne. Nora Bossong bricht das auf. Sie deckt nicht nur die Person Magda Goebbels mit ihrem Umfeld auf, sondern auch die zwiegespaltene Person des Hans Kesselbach und sein Umfeld. Das ist im Gegenteil zum glamourösen Leben des Kreises um Magda Goebbels gefährdet, ohnmächtig und ausgeliefert. Die Lebensrealitäten und Persönlichkeiten, mit denen Hans jeweils verkehrt, könnten alle unterschiedlicher nicht sein und trotzdem vereint sie eines: „Wir wollten geliebt werden, das war alles, und wir hatten entsetzliche Angst, allein zu sein“.
Dem kann sich niemand entziehen, auch wir heute nicht. Dieses Gefühl differenziert nicht zwischen sozialem Hintergrund, Alter und Weltanschauung. Nora Bossong erinnert ihre Lesenden daran, in welche Richtungen man von dieser Angst aus abbiegen kann.
Reichskanzlerplatz, Nora Bossong, 295 Seiten, Suhrkamp Verlag
Beitragsbild: Greta Kluge