Von Rissen und Wellen
Ich habe meine Risse gehasst. Sie sagen: »Schau, sie sehen doch aus wie kleine Wellen. Wie das Meer. Wie ein Gemälde.« Das sagen sie. Der Gedanke ist schön.
Von Olivia Rabe
Jeder kennt Risse. Risse an der Hauswand. Risse in einem Buch. Risse in einem Blatt. Risse im Papier. Doch diese Risse meine ich nicht. Nicht diese offensichtlichen Risse.
Risse auf meiner Haut. Risse, die ich im Spiegel sehe. Risse, die wie Wunden aussehen, aber doch keine sind. Risse, die ich am liebsten rausreißen würde. Risse, die ich anschreie, Verfluche und nicht als Geschenk meines Körpers sehe.
Risse, die andere versuchen in ein schönes Licht zu rücken. Risse, die Einen einzigartig machen. Risse, die von neuem Leben erzählen. Risse, die Stärke bezeugen. Risse, die den eigenen Wachstum markieren. Risse, die eine unglaubliche Geschichte erzählen. Risse, die uns menschlich machen. Risse, die uns zu Kunst werden lassen.
Trotzdem habe ich diese Risse gehasst. Sie sagen: »Schau, sie sehen doch aus wie kleine Wellen. Wie das Meer. Wie ein Gemälde.« Das sagen sie. Der Gedanke ist schön. Ich hoffe, dass ich eines Tages diese Risse nicht als Risse, Sondern als Wellen sehen kann. Und ich glaube, ich werde besser darin.
Bilder: Olivia Rabe