Kleinstadtgewitter

Kleinstadtgewitter

Man klopft auf Schultern, stößt Bierkrüge aneinander und präsentiert artig dressierte Kinder. So ein schönes Fest! So eine tolle Stadt! So eine nette Familie. Von außen ist es einheitlich perfekt. Von innen? Ist die Perfektion defekt.

von Ida Müermann

Ich komme aus einer Stadt mit bunten Häuserreihen, durch die sich graue Straßen ziehen. Es gibt Schulen und Läden und Kirchen, zwischen denen ab und an ein grüner Park vorsichtig seine Bäume in den Fahrtwind der vorbeibrummenden Autos hält. Von außen ist es ein ruhiger, beschaulicher Ort. So einer, in den die Menschen mit Anfang dreißig ziehen, um Eltern zu werden. Man hängt sich Spitzengardienen in die Fenster und freut sich über sein Kleinstadtleben hinter frisch geschnittenen Buchsbaumhecken. Die Bäckerin kennt den Bankier und der Kleinganove die Polizistin, der Pfarrer grüßt den Schreiner, man nickt einander zu und schwatzt und winkt-

obwohl jeder weiß, dass der Schreiner zu viel trinkt.

Und wenn schon, der eine oder andere Tropfen hat doch noch keinem geschadet, denken die Leute und vergessen dabei seine Frau und Tochter, die in den Alkoholschwaden des Vaters ertrinken, während die anderen zuschauend wegsehen. Heute gibt es ein Angebot im Supermarkt, da ist zum Hinsehen keine Zeit. Mit dem Wagen zwischen den Müslireihen trifft man den Schreiner und seine Frau. Hallo Nachbar, man kennt sich, die Familie wohnt nebenan mit schön gemähten Rasen. Man lächelt nett Richtung Nachbarin, als ob es nicht stört

Dass man jede Nacht ihr Kind weinen hört.

Und wenn schon, das stellt sich bestimmt nur an. Es kann doch froh sein, dass es noch beide Eltern hat und in so einer großartigen Kleinstadt aufwachsen darf und nicht in einem heißen Land in einer Miene schuften muss. Außerdem, es wird ja nicht geschlagen oder so. Die Mutter hat es gerade nur nicht einfach, seitdem sie ihren Job als Managerin verloren hat. Und mit so einem mürrischen Trinker als Mann ist es doppelt bitter für sie. Krieg du mal selbst Kinder, die kannst du dann erziehen. Und jetzt Beeilung, das Stadtfest beginnt schon in einer Stunde.

Den schön geschmückten Marktplatz sieht man schon von weitem. Die Blaskapelle setzt an, das Karussell dreht sich und die Würste brutzeln auf dem Grill. Man klopft auf Schultern, stößt Bierkrüge aneinander und präsentiert artig dressierte Kinder. So ein schönes Fest! So eine tolle Stadt! So eine nette Familie.

Von außen ist es einheitlich perfekt.

Von innen? Ist die Perfektion defekt.

Warum ich das sage und die Makel beim Namen nenne?

Weil ich jedes Problem und jeden Defekt nur allzu gut kenne.

Ich bin das Kind, mitten unter ihnen. Die weißen Spitzengardinen sind löchrige Lumpen, wenn die Augen aus dem Haus auf die Straße fliehen. Rasend schnell fliegen sie über das graue Band am Ortsschild vorbei aus der Kleinstadt hinaus, um nie wieder zurückzukehren. Mein kleiner Körper im hellblauen Kleid bleibt am fein gedeckten Abendbrottisch sitzen. Dazu erzogen, still zu halten und artig zu lächeln. Die Familie nach außen präsentieren und innen leise um Hilfe zu weinen. Hinter den frisch geschnittenen Buchsbaumhecken könnte ein aufmerksamer Beobachter ein unheimliches Schauspiel entdecken. Nicht gewalttätig, wo denkt ihr denn hin? In so einer anständigen Stadt wird doch keiner geschlagen. Es sind keine blauen Flecke oder Narben, denn Worte hinterlassen keine Spuren auf der zarten Haut.

Worte. Harte Worte.

Stürzen

Stoßen

Schlagen

Auf mich ein.

Spitze, scharfe Worte haben meine Kinderseele vernarbt. Ich habe mal gelesen, eine Kinderseele ist wie eine Blume. Sie braucht viel Liebe und Zuneigung, sonst geht sie ein. Doch der Vergleich hinkt. Eine Blume kann noch so viel Sonnenschein in sich aufsaugen, beim ersten heftigen Gewitter knickt sie um und stirbt ab. Ich hingegen blühe. Meine hellblauen Blütenblätter sind wie festgeklebt, aufrecht und scheinbar gesund wachse ich in die Höhe. Die toten Wurzeln unter meinen Füßen kann keiner sehen. Ich trotze dem Gewitterturm und sehne mich nach dem Sonnenschein, auch wenn es nach einer liebevollen Geste doppelt schmerzt, dass die Stimmung wieder kippt.

Erst lachen und Sonnenschein und dann

Dann wieder Gewitterregen und Schreien.

Wenn ich an meine Kleinstadt denke, an unser Alkohol- und Zorngetränktes Haus hinter der Buchsbaumhecke, dann kommen mir keine familiären Wurzeln in den Sinn. Stattdessen liegt dort eine Münze, golden glänzend poliert zeigt sie unser lächelndes Familienbild.

Ich habe es so satt,

dass die Münze zwei Seiten hat.

Foto von Valentin Brosda

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