»Killers of the Flower Moon«: Amerikanische Chronik der Gewalt
Mit Killers of the Flower Moon setzt Martin Scorsese der Osage Nation ein episches Denkmal und erzählt ausgedehnt vom Genozid an der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, dem schandhaften Gründungsmythos der amerikanischen Zivilisation und des Westerns gleichermaßen. Im Zentrum steht ein ahnungsloser Leonardo DiCaprio, der die intriganten Pläne seines Onkels, eines Farmer-Kapitalisten blindlings ausführt.
von Johannes F. Schiller
In einem sakralen Ritual der Osage wird eine Pfeife vergraben. Sie betrauern die Vermischung ihrer Nachkommen mit dem Blut der weißen amerikanischen Gesellschaft. Bei einer Wanderung durch die Badlands stoßen einige Ureinwohner auf Öl, das geysirartig aus dem Boden schießt. In Slow Motion spritzt es auf ihre nackten Oberkörper, begleitet von Rockmusik. Man könnte meinen, das seien die Rolling Stones. Zählt man eins und eins zusammen, würde das auch Sinn machen – es ist immerhin Scorsese, bekannt für seine Vorliebe der Stones und generell Oldies, Rock and Roll der 60er getaktet zu einer bestimmten Art von Clipästhetik. Dazu aber später mehr.
Die Ureinwohner vom Stamm der Osage wurden Anfang des 19. Jahrhunderts von den Weißen in die Reservate von Oklahoma umgesiedelt. Als sie unerwartet auf immenses Ölvorkommen stoßen, werden sie zu einem der damals reichsten Völker der First Nations. Aber der neu erlangte Wohlstand bringt auch Gefahren und jede Menge Gier bei den Weißen mit sich. Das Gesetz der US-Regierung sieht vor, dass Weiße ihr Geld treuhänderisch verwalten und sie nicht selbständig über ihre Ausgaben verfügen können. Der Film beginnt mit größtenteils authentischen Schwarzweißaufnahmen und Fotografien, wo sie mit teuren Autos und Chauffeurs zu sehen sind. Darunter mischen sich Bilder der Cast-Mitglieder in den gleichen aufwändig gewebten Gewändern. In einer Montagesequenz werden zu Beginn nacheinander eine Reihe ungelöster Morde an den Osages aufgezählt, die Gesichter der Toten, ihre Namen in nüchterner matter-of-fact-way. Verbrechen, die später als »Osage Indian Murders« in die Geschichte eingehen werden.
Zwiespältige, selten greifbare Figuren
Das reiche Weideland zieht eine Schar von auswärtigen Ausbeutern an, mit dem Ziel an das Geld der Osage zu kommen, primär über Heirat oder Erpressung. Als Veteran des Ersten Weltkriegs versucht Ernest Burkhart (DiCaprio) auf diese Weise sein Glück bei seinem Onkel William Hale (De Niro), der als gönnerhafter Samariter mit engem Draht zu den Sitten und Bräuchen der Indigenen in ihren engeren Kreis des Vertrauens aufgenommen wurde. De Niro spielt einen hochgradig ambivalenten Patenverschnitt, der die Wege des Betrugs und der Intrige auswendig kennt, dabei aber keineswegs gefühllos oder despotisch daherkommt und seinen Freunden wie Feinden mit gebührendem Respekt und Demut begegnet. Ein krasser Kontrast zu Daniel Plainviews von Habgier zerfressenen, egomanen Erdöltyrannen in »There Will Be Blood«. Hale instruiert jeden Schritt, als würde er ein Orchester leiten, damit er an die Bodenrechte gelangt, fast schon aus einer inneren Notwendigkeit heraus; einer grundständigen kapitalistischen Ideologie folgend, was für ihn jede mögliche Transgression legitimiert.
Erst nachdem Ernest vom FBI aufgezeigt bekommt, auf was er sich mit Hale eingelassen hat, ist es ein schleichendes Erwachen seinerseits: Seiner Ehefrau Mollie Brown (Lily Gladstone in einer anmutig zurückgenommenen, bedachten Performance, die Offenbarung des Films) hat er heimlich jeden Tag Gift verabreicht. Doch über Richtig und Falsch hatte er sich bislang wenig Gedanken gemacht. DiCaprio torkelt schlafwandelnd und mit immer tieferem Verzweifeln durch diesen Film, als hätte er keine andere Wahl als sich instrumentalisieren zu lassen. Er liebt Mollie – daran lässt Scorsese wenig Zweifel, auch wenn seine intellektuelle Beschränktheit im Weg steht. Er bleibt unter dem Einfluss seines Onkels, selbst wenn er es besser wissen müsste. Die Überzeugungsreden Bills sind 1:1 durchschaubar manipulativ, doch Ernests Naivität macht ihn zum astreinen, formbaren Komplizen. Mollie dagegen wird sehr früh im Kreise ihrer Schwestern gezeigt, wo sie sich sehr wissend darüber zeigen, dass die Männer ihnen nach dem Erbe trachten. Die geistige Überlegenheit weiblicher Figuren gegenüber der männlichen Fehlbarkeit ist bei Scorsese ein leider zu selten untersuchtes, wahrscheinlich randständiges Phänomen – zumal sich ansonsten alles um den Männerbund dreht, Scorseses filmische Heimat.
Die Banalität des Verbrechens
Moralisches Bewusstsein existiert in dieser Welt, aber es wird glatt übergangen oder schlicht nicht beachtet. Rassismus gegen die Schwarzen wird ohnehin fraglos hingenommen. Der Ku-Klux-Klan marschiert Hand in Hand mit den Nachbarn des Dorfes wie selbstverständlich bei einer Parade. Es ist die Welt der weißen Vorherrschaft, von Ausbeutung und Rassismus, einer Gruppe von privilegierten Weißen, deren Komplizenschaft für den Zuschauer augenscheinlich wird, aber im Geheimen, hinter verschlossenen Türen und vorgehaltener Hand vonstatten geht.
Und damit spannt »Killers of the Flower Moon« einen weiten Bogen, der das Schaffen Scorseses thematisch reflektiert: Die amerikanischen Heroen und Mythen vom Wilden Westen, wie wir sie zu Genüge gefüttert bekommen, sei es im Classical Hollywood und bis heute, sind im Kern eine Farce, ein Trugbild, eine Chimäre. Mord bleibt das perverse, kaltblütige Geschäft, das beiläufig geschieht. Man denke nur an die oberflächliche Coolness der Gangster in »GoodFellas« (1990), die Banalisierung ihrer hässlichen Machenschaften, die für sie korrekt ausgeführtes Business bedeuten. Besonders die amerikanische Geschichte kann als lange, andauernde history of violence nur so weit verstanden werden angesichts der Bagatellisierung von Massenmord und Ausrottung. Flower Moon ist dabei immer auch schwelender Abgesang auf das, was war und appellative Erinnerungsarbeit. Wenn zum Schluss eine Luftaufnahme eines indigenen Zeremoniells in Zirkelformation gezeigt wird, kehrt man in die farbengesättigte Gegenwart zurück. Und man ist bestenfalls um einiges schlauer.
Der richtige Fokus
Im ersten Drehbuchentwurf, berichtet Scorsese, ging es um die Perspektive des neu gegründeten FBI und die Aufklärung der Mordserie, woraus zweifellos ein klassisches Copdrama (Whodunit) mit white-saviour-Pointe entstanden wäre. Die Behörde schreitet im Film dennoch ein, aber erst im letzten Drittel, wenn das faule Spiel längst offenliegt. Stattdessen musste sich Scorsese klar positionieren und aus Sicht der moralisch dubiosen Killer erzählen, was weitaus ergiebiger erschien. Indes kann er sein mit dezenten religiösen Anklängen versehenes Schuld-und-Sühne-Narrativ einpflanzen, spätestens seit »Mean Streets« (1973) eine Kenngröße seines Oeuvres (»You don’t make up for your sins in church. You do it in the streets. You do it at home.«)
Gerichtsverhandlungen und die Schuldspirale markieren die letzte Station des Films, angesichts der dreieinhalbstündigen Lauflänge jedoch mehr Ballast und dramaturgisches Übel. Ein anderer Regisseur hätte diesen Teil erzählökonomisch auf seinen Ausgang beschränkt, Scorsese wälzt das Szenario zusätzlich aus und riskiert damit immer auch einen gewissen Leerlauf in der verbalisierten Rekapitulation des bereits Bekannten. Lässt man Scorsese freie Hand – was mit dem Apple-TV+-Deal ohne größere Studiointervention gewiss geschah – wird sich alles auserzählt. Darauf ist Verlass. Und trotzdem behält er für das Finale überraschend ein Ass im Ärmel…
Häufig unerwähnt bleibt der atmosphärische Soundtrack des dieses Jahr verstorbenen Robbie Robertson. In seiner Komposition, einer knisternden Fusion von Blues Rock und Country, kommen traditionell indigen-tribale Elemente wie Trommeln, Flöten sowie bedrohliche, punktuell eingesetze Gitarrenriffs zum Tragen. Robertson wuchs selbst im Six Nations Reserve auf und hat als Gitarrist und Songwriter von The Band entscheidend den Americana-Sound der 1970er-Jahre geprägt. Mit Scorsese arbeitete er schon seit dem Konzertfilm »The Last Waltz« (1978) zusammen. Mit »Flower Moon« hat er nun sein Vermächtnis hinterlassen.
»Killers of the Flower Moon« wird ab 16.11.23 im Garbo Kino (Regensburg) zu sehen sein. Wer sich danach noch nicht »sattgesehen« hat : Der Film soll später auch auf der Streamingplattform Apple TV+ zur Verfügung stehen.
Beitragsbild: Robert Lindner I unsplash