Kuss oder kein Kuss
Sind Küsse etwas für die Öffentlichkeit oder doch eher Privatsache? Diese Entscheidung birgt für verschiedene Menschen verschiedene Implikationen. Ein Bericht über die angenommenen Unterschiede.
Neulich habe ich jemanden zum ersten Mal öffentlich geküsst. Naja, was heißt zum ersten Mal, wie alle ersten Male ist auch das hier eine Definitionssache: Was heißt öffentlich? Sind Feiern öffentlich, auf denen zwar viele Augen sind, aber nur wenige klare Verstände, Partys, die für Leute unseren Alters zugänglich sind, aber nicht für unsere Eltern, Großeltern und die Passant:innen auf der Straße? Sind Freundeskreise öffentlich, in die alle Beteiligten noch ein paar Anhängsel mitbringen, Mitbewohner:innen, Partner:innen, andere Freundeskreise?
Wie viel Zärtlichkeit zeigt man in Anwesenheit anderer Leuten? Wie verhält man sich öffentlich? Ich weiß, dass das andere Menschen auch beschäftigt. Ich habe eine Freundin, die seit vielen Jahren mit ihrem Freund zusammen ist, aber man merkt es den beiden kaum an, wenn man sie zusammen sieht, zumindest nicht an ihrem Verhalten, wohl schon daran, was für ein gutes Team sie sind. Ich habe andere Bekannte, die ihre Beziehung regelrecht vorführen. Und dann gibt es noch die, die einfach hoffnungslos verliebt sind und alles andere ausblenden.
Wie verhält man sich öffentlich? Küsst man sich vor Freund:innen? Küsst man sich vor Fremden? Verlinkt man sich gegenseitig in der Instabio, markiert man sich auf Bildern? Oder hält man die Beziehung ganz aus den Sozialen Medien heraus?
Und dann, vielleicht ein bisschen tiefer, vielleicht ein bisschen psychologischer, wie das unsere Generation so gerne mag: Was haben wir eigentlich mitgegeben bekommen von unseren Eltern, Großeltern, erwachsenen Vorbildern? Welche Beziehungsvorstellungen haben wir in unsere Köpfe gepflanzt bekommen?
Ich weiß, dass das andere Menschen auch beschäftigt, auch meine Freundinnen. Sie machen sich auch Gedanken darüber, ob sie in der Öffentlichkeit küssen. Sie machen sich Gedanken darüber, ob das zu ihrer Beziehung passt, zu ihrem Partner und sich, zu ihrem Selbstbild. Das kann ich alles nachvollziehen.
Aber ich habe neulich zum ersten Mal jemanden öffentlich geküsst und was ich damit meine, ist: Neulich habe ich zum ersten Mal eine Frau auf offener Straße geküsst, vor aller Augen, und was ich mich gefragt habe, ist nicht: Passt das zu unserem Verhältnis und zu meinem Selbstbild?, sondern: Wer hier ist homophob? Gibt es etwas zu befürchten? Könnte es jemand sehen, der mich oder sie kennt, könnte es die Verwandtschaft mitbekommen? Dann stellt sich eine leichte Beruhigung ein, weil man ja doch noch weiß, dass man die Situation so gewählt hat, dass es die Verwandtschaft nicht mitbekommen kann. Und trotzdem: Ganz weg gehen die Gedanken nicht.
Ich denke, das ist der große Unterschied. Bei meinen Freundinnen ist es ein Trial-and-Error-Prinzip. Wie viel Zärtlichkeit sie mit ihren Freunden zeigen, das können sie ausprobieren, und wenn es zu viel ist, dann ändern sie es eben. Wenn man queer ist, dann zählt schon jeder Einzelfall. Dann könnte alles Konsequenzen haben. Bei meinen Freundinnen ist das Maß an Öffentlichkeit eine theoretische Überlegung, die sie manchmal anstellen. Wenn man queer ist, hat man es immer im Kopf, dann steckt hinter jedem öffentlichen Kuss eine bewusste Entscheidung.
Ich denke, es gibt momentan eine Entwicklung hin zu immer mehr Entscheidungen dafür. Ich denke, immer mehr queere Menschen entscheiden sich, out zu sein und ihr Leben entsprechend zu leben. Und trotzdem wäre eine Welt besser, in der niemand entscheiden muss, ob man ein Risiko auf sich nimmt, wenn man jemanden küsst. Besser wäre eine Welt, in der es kein Risiko gibt.
Beitragsbild: Etienne Giradet via Unsplash