Der Matheunterricht, die Neujahrsvorsätze und ich.
In den letzten Jahren hat sich mein Zimmer daheim kaum verändert. Wie auch? Die meiste Zeit bin ich ja in Regensburg. Deswegen ist es spannend, welche Überreste aus jüngeren Jahren sich dort noch finden lassen.
Von Julia Huber
An meinem Bücherregal hängt eine Karte. Sie ist pink. In gelber Schrift steht darauf: „Ich bin nur zur Dekoration im Matheunterricht.“ Sie fällt mir auf, als ich über Weihnachten zu Besuch zu Hause bin. Sie fällt mir auf, weil ich ein kleines inoffizielles Bewerbungsvideo aufnehmen muss und als Hintergrund mein großes Bücherregal gewählt habe. Und diese Karte, die schneide ich raus aus dem fertigen Video.
Warum stört mich diese Karte? Sie stört mich, weil sie demonstriert: Ich habe gedacht, im Matheunterricht zu nichts zu gebrauchen zu sein. Und mit dieser Einstellung bin ich einen Großteil meiner Unter- und Mittelstufenjahre an das Mathelernen herangegangen: Ich kann das eh nicht. Mathe ist nichts für mich. In der Grundschule und in der Oberstufe bin ich dagegen gut in Mathe gewesen.
Eine Sache war in der Mittelstufe anders als davor und danach: Die gesellschaftlichen Erwartungen an Mädchen haben sich für mich nie so deutlich ausgewirkt wie in dieser Zeitspanne. Davor, als Kind, habe ich ihnen gut trotzen können; danach, als junge Erwachsene, habe ich sie reflektieren können. Währenddessen aber – währenddessen bin ich verwirrt gewesen, hin und her geworfen zwischen der Pubertät, dem Trotz gegen frauenfeindliche Klischee-Weiblichkeit und dem Wunsch, dazuzugehören, dem Wunsch, eine Identität zu haben. Das hat dazu geführt, dass ich solche Karten gekauft und aufgehängt habe.
Mein Problem mit dieser Karte ist, dass ihre Zielgruppe ganz eindeutig junge Mädchen sind, wie ich eins gewesen bin. Welcher kleine Junge hängt sich erstens eine pinke Karte in sein Zimmer? Und zweitens, welcher kleine Junge möchte sich gerne mit dem Wort Dekoration identifizieren, selbst wenn es ironisch gemeint ist? Nein, die Zielgruppe sind kleine Mädchen, denen man so einredet, dass sie Mathe eh nicht können. Ich erinnere mich, dass es in meiner Wahrnehmung auch irgendwie cool gewesen ist, schlecht in Mathe zu sein.
Das tut mir leid für das kleine Mädchen, das ich gewesen bin, und ein bisschen auch für die junge Frau, die aus diesem Mädchen gewachsen ist. Habe ich nicht ursprünglich durchaus bewusst Studiengänge gewählt, in denen Statistik keine große Rolle spielt – aus dem Gedanken heraus: Statistik, das kann ich eh nicht? Sage ich nicht immer noch viel zu oft, ich könne nicht kopfrechnen? Es sind Überbleibsel, die ich wahrscheinlich leicht loswerden kann, aber viel zu lange sind sie mir nicht aufgefallen.
Ich denke viel an dieses etwa vierzehnjährige Mädchen, das ich gewesen bin – zuletzt auf der Silvesterfeier. Jemand hat erzählt, dass sie neulich ihre Jahresvorsätze gefunden hätte, die sie sich mit dreizehn oder vierzehn aufgeschrieben hätte. Einer sei gewesen: Im neuen Jahr einen Freund zu finden. Das hat mich an eine eigene Liste mit Neujahrsvorsätzen erinnert, die ich mit zwölf oder dreizehn in Geheimsprache geschrieben habe. Abnehmen, einen Freund finden – alles Dinge, die ich nicht für mich gewollt habe, sondern um cool zu sein, cool zu werden. Und alles Dinge, die jungen Mädchen eingeredet werden, in einer Phase, in der sie gegen den Druck von außen fast machtlos sind.
Jedes dieser Mädchen wird älter werden und es überwinden können. So ist es bei mir gewesen, bei der Fremden auf der Silvesterfeier, bei allen meinen Freundinnen. Aber ich wünsche mir so sehr, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der junge Mädchen diesen Weg überhaupt nicht mehr gehen müssen, in der ihnen nicht mehr eingeredet wird, was sie alles nicht können oder schlecht machen. Und weil ich diese Welt nicht eigenhändig erschaffen kann, schaue ich auf das, was ich schaffen kann: Den vierzehnjährigen Mädchen in meinem Leben -Verwandten, Nachbarinnen, Bekannten- ein Gegenbild zu zeigen.
Bild: Greg Rosenke | unsplash