Osterhase und Weihnachtsmann zugleich
Oft fehlt Anerkennung für Care-Arbeit. Für Care-Berufe wir das mittlerweile thematisiert. In der Familie kaum. Das hat Folgen.
Von Anonym
Triggerwarnung: In diesem Artikel wird das Thema Suizid behandelt. Probleme mit dieser Thematik? Wende dich an die Telefonseelsorge 0800 1110111. Sprechen hilft.
Seit über einem Jahr möchte ich diese Zeilen schreiben. Wieso erst jetzt? Ich kann es nicht genau sagen.
Meine Mutter hat sich vor etwas mehr als einem Jahr das Leben genommen. Sie war psychisch krank und hat entschieden, dass sie nicht mehr so leben möchte. Dass es einen Unterschied gibt zwischen nicht mehr leben wollen und nicht mehr so leben zu wollen, habe ich erst nach einiger Zeit begriffen. Suizid ist nicht eine Entscheidung gegen das Leben als solches, sondern gegen ein Leben, in dem Schwere und Schmerz vorherrschend sind und die Farben immer mehr verblassen.
Aber was die Entscheidung sich das Leben zu nehmen in der Feminismus Kolumne zu suchen? In diesem Fall ist es mitunter das Patriarchat, das auf meine Mutter eingewirkt hat. Nicht allein und nicht ausschließlich, aber dennoch.
Meine Mutter war seitdem ich denken kann für mich und meine Geschwister die Bezugsperson. Sie war da, als wir aus der Schule kamen, hat unsere Streitereien geschlichtet, für uns gekocht, unsere unzähligen Hobbies gemanagt und ermöglicht. Wenn ich an ein paar Situationen zurückdenke, in denen ich mich beschwert habe, dass es schon wieder Suppe gibt oder dass mir dies und jenes nicht passt, dann möchte ich am liebsten eine Zeitreise machen und meinem 14-jährigen Ich ne ordentliche Backpfeife geben. Damals erschien es mir das normalste der Welt, dass meine Mutter da ist und alles auffängt. Ich glaube, dass es ein Stück weit normal ist, dass Kinder ihre Eltern erst später als eigene, fehlerhafte und verletzliche Personen wahrnehmen. Trotzdem bin ich überzeugt, dass es ein starkes Ungleichgewicht in Bezug auf die Anerkennung bei heterosexuellen Elternpaaren gibt. Wenn wir Menschen eines gemein haben, dann, dass wir Anerkennung brauchen, auch wenn wir noch so selbstlos sind. Wenn mein Vater am Wochenende gekocht hat, dann gab es danach immer großes Lob, wie lecker es gewesen sei – meine Mutter hatte oftmals dafür eingekauft und Vorbereitungen gemacht – daran, dass wir das gewürdigt hätten oder die anderen fünf Male in der Woche an denen sie gekocht hat, kann ich mich nicht erinnern.
Nach den Schwangerschaften hat sie ihren geliebten Job als Journalistin für ein naturwissenschaftliches Magazin aufgegeben und sich fast ausschließlich um uns Kinder gekümmert. Als sie dann wieder einsteigen wollte, waren ein paar Jahre ins Land gegangen. Der Verlag hatte ihr inzwischen gekündigt und als Biologin, deren Abschluss einige Jahre zurück lag, waren die Jobmöglichkeiten -gelinde gesagt- ernüchternd. Als Dank dafür- musste sie fortan alle paar Jahre zum Arbeitsamt dackeln, um zu erklären, dass sie immer noch nichts gefunden hatte, was ihr gefällt. Nein, sie hatte keine Lust in einem Sanitätshaus Bandagen zu verkaufen. Nein, sie hatte keine Lust mit Ende dreißig Praktika zu machen. Nein, sie hatte keine Lust weiter in der Augenarztpraxis zu arbeiten, wo sie zwischenzeitlich gejobbt hatte.
Dass sie die Möglichkeit hatte, gegen ihren Willen nicht irgendeinen Job aus finanziellen Nöten machen zu müssen, ist ein Privileg. Kein Privileg ist es aber, abhängig zu sein von meinem Vater – zumindest finanziell. Keine reelle Chance gehabt zu haben einen Familienalltag anders zu gestalten als mit dieser Rollenverteilung. Warum? Weil mein Vater wesentlich besser verdiente. Warum? Weil eine Mutter für ihre Kinder sorgen muss. Sorgen heißt in dem Fall eher selten Vollzeit arbeiten und am Wochenende schon vorbereitete Sachen kochen.
Ehrlich gesagt, glaube ich – trotz der Möglichkeit des Vaterschaftsurlaub und der Einführung eines Begriffes für das, was Mütter seit Millionenjahren leisten, nämlich Carearbeit – dass die Rollenverteilung, fehlende Anerkennung und Erwartungshaltungen zu großen Teilen fortbestehen. Vielleicht liest du diesen Artikel und fühlst dich ertappt, weil es bei dir ähnlich war oder du denkst „bei uns war das ganz anders“ und ehrlich gesagt, habe ich das vor ein paar Jahren auch noch gedacht. Mein Vater hat ja auch Wäsche gewaschen und mit uns gelernt und war beim Elternabend und… und trotzdem war meine Mutter der Anker, der wandelnde Kalender, der Weihnachtsmann und Osterhase zugleich, der Geburtstagskuchen, der aufmunternde Blick bei meinem ersten und letzten Fechtwettkampf, die immer anwesende Zuversicht und der schon gekaufte vegane Aufstrich, wenn ich zu Besuch bei meinen Eltern war.
Ich weiß und werde nie wissen, wie viel Einfluss die fehlende Anerkennung und der Lebensweg, den sie gewählt hat, der auf strukturellen Ungleichheiten basiert, letztendlich auf ihren Tod hatte. Aber ich versuche mir manchmal vor Augen zu führen, wie wenig sie sich gesehen gefühlt haben muss. Vielleicht sogar so wenig, dass sie sich selbst nicht mehr gesehen hat. Sie war die leise, aber starke Stimme im Rücken der anderen, die ihnen so viel Mut gemacht hat, so bestendig, dass die anderen irgendwann vergessen haben sich umzudrehen.
Bild: Mika Baumeister | unsplash