100 Tage Jiu Jitsu
Für viele von uns ist Sport ein wichtiger Teil unseres Lebens. Entweder verarbeiten wir beim Laufen den Alltagsstress oder werden eins mit uns beim Yoga. Die Jagd nach dem nächsten persönlichen Rekord im Gewichtheben, der schnellsten Zeit beim 5.000-Meter-Lauf oder einfach das Erfolgserlebnis, den inneren Schweinehund besiegt zu haben, treiben uns an, an unsere Grenzen zu stoßen. Besonders Kampfsportler:innen reizt es, ihre Grenzen mit einem:r Trainingspartner:in zu testen, um herauszufinden wie widerstandsfähig man ist. Ich als Kampfsportenthusiast habe bereits viele Kampfsportarten miterlebt, von Boxen bis Karate war alles mit dabei. Jedoch hat mir immer etwas gefehlt, eine gewisse geistige Herausforderung … bis ich auf Jiu Jitsu gestoßen bin. In diesem Artikel will ich euch berichten, was ich in 100 Tagen Jiu Jitsu erlebt und gelernt habe.
von Andreas Hopfauf
»Lass dein Ego in der Umkleide«
Kampfsport ist unter vielen Menschen mit einigen Stigmata belastet. Er wird als brutal, aggressiv oder gefährlich gebrandmarkt und soll größtenteils nur von Männern praktiziert werden. Doch Kampfsport ist nur ein Überbegriff für eine Vielzahl an Kampfstilen, die sich mit der waffenlosen Selbstverteidigung beschäftigen. Diese Kampfstile und -künste reichen vom von buddhistischen Mönchen praktizierten Kung Fu bis hin zum israelischen Krav Maga, das vom israelischen Geheimdienst benutzt wird. Besonders das MMA (Mixed Martial Arts) versucht, diese Kampfstile zu vereinen, um zu demonstrieren, welcher am effektivsten ist, um sein Gegenüber zu besiegen. Hierfür gibt es mehrere Unternehmen, die solche Wettkämpfe veranstalten – das wohl bekannteste ist die UFC (Ultimate Fighting Championship). Im Laufe der Zeit stach ein Kampfsport bei der UFC besonders heraus, und zwar das Brazilian Jiu Jitsu (kurz BJJ). BJJ wird in einem Anzug (Gi) praktiziert und ist eine Abspaltung vom ursprünglichen Jiu Jitsu (kurz JJ). Als Kampfkunst der waffenlosen Selbstverteidigung ist das Ziel des JJ, eine angreifende Person – ungeachtet dessen, ob diese bewaffnet ist oder nicht – möglichst effizient unschädlich zu machen. Dies kann durch Stoß-, Wurf-, Hebel- und Würgetechniken geschehen, indem die angreifende Person unter Kontrolle gebracht oder kampfunfähig gemacht wird. Dabei soll beim Jiu Jitsu nicht Kraft gegen Kraft aufgewendet werden, sondern die Kraft der angreifenden Person durch präzise Techniken gegen sie selbst verwendet werden.
Für mich als überzeugten Boxer klang das erstmal sehr fremd. Ich war es gewohnt, mit diversen Schlagabfolgen meine Trainingspartner:innen zu besiegen, doch das Jiu Jitsu hörte sich für mich nach einer humaneren Art und Weise an, meine Gegner:innen zu überwältigen. Deswegen informierte ich mich etwas mehr darüber und machte interessehalber zusammen mit einem Freund ein Probetraining im Regensburger Elements Jiu Jitsu aus. Nach meiner ersten Einheit war ich schlichtweg fasziniert. Es verblüffte mich, wie ich, trotz meiner jahrelangen Kampfsporterfahrung, keine Chance gegen eine Trainierende hatte, die 30 Kilogramm leichter und einen Kopf kleiner war. In diesem Moment verstand ich, wieso im Umkleideraum ganz groß geschrieben stand: »Lass dein Ego in der Umkleide«.
Aller Anfang ist schwer
In den ersten Wochen hinterließ jede Trainingseinheit Spuren auf meinem Körper und in meinem Bewusstsein. Zu Beginn war es der schmerzende Muskelkater an Stellen, von denen ich nicht mal wusste, dass ich dort Muskeln hatte. Mir wurde bewusst, dass Stärke in dieser Kampfkunst keine große Rolle spielt. Wer die grundlegenden Techniken des JJs innehat, kann problemlos jede:n Trainingspartner:in – egal wie groß und stark – zum Aufgeben bringen (eng.: submit). Wenn der:die Trainingspartner:in aufgeben will, dann muss er:sie entweder abklatschen (eng.: tappen) oder sich verbal äußern. Sobald man submitted wird oder getappt hat, beginnt die Runde von neuem. Anfangs ist es der Überlebensinstinkt, der einen durch die Runden bringt, mit der Zeit weicht dieser den erlernten Techniken und der eigentliche »Spaß« beginnt. Man fängt an, schlechte Positionen zu verstehen und begreift, mit welcher Technik man aus diesen wieder herauskommt. Die Menge an Aha-Momenten ist schlichtweg unzählbar.
Nach einiger Zeit gewöhnt sich der Körper an die eigenartigen Bewegungen und der Kampf gegen das eigene Ego beginnt. Es wird ziemlich schnell klar, dass man mit Gewalt und Aggression nicht weiterkommt, da die endlosen Würge- und Hebeltechniken darauf ausgelegt sind, gewalttätige und aggressive Kontrahent:innen kampfunfähig zu machen. In den ersten Monaten wird man öfter submitted als es einem recht ist, aber in dieser Zeit lernt man auch sein Gegenüber wertzuschätzen und in Stresssituationen Geduld zu bewahren. Ein Zitat des renommierten Jiu Jitsu Trainers John Danaher bringt die wesentlichen Eigenschaften des JJ gut auf den Punkt:
The deepest benefits of Jiu Jitsu come off the mat. It encourages a world-view based upon the idea of rational problem solving. Jiu Jitsu is all about solving problems that are rapidly changing under stress.” – John Danaher
Nicht nur ein Kampfsport
Meinen persönlichen Fortschritt versuchte ich durch kurze wöchentliche Evaluationen zu dokumentieren. Bereits nach wenigen Trainingseinheiten bemerkte ich, dass ich durch Atmung, Willenskraft und Körpergefühl Positionen und Techniken durchführen konnte, die ich zuvor für unmöglich hielt. Auch charakterlich hat mich der Sport sehr verändert. Ich habe meine Emotionen mehr unter Kontrolle, mir fällt es leichter abzuwarten und in Stresssituationen Ruhe zu bewahren. Ich bin viel aufmerksamer und mit jeder Trainingseinheit erkenne ich immer mehr Stärken, aber auch Schwächen an mir, sowohl körperlich als auch mental. Die dabei mir widerfahrenen Verletzungen – Rippenbruch, verletztes Sprunggelenk und verdrehtes Knie – waren natürlich suboptimal, aber keine Ausrede wert. Doch Durchhaltevermögen, Fleiß und Disziplin werden durch das Ranking-System belohnt. Wie auch im Judo oder Karate, gibt es beim Jiu-Jitsu unterschiedliche Gürtelfarben, die den eigenen Fortschritt anzeigen sollen. Die Gürtelfarben werden der Reihe nach wie folgt verliehen: Der erste Gurt ist weiß, der zweite blau, danach kommen lila, braun und schwarz. Dazwischen kann der:die Trainer:in – nach eigener Einschätzung – Streifen vergeben, nach vier Streifen kommt die nächste Gürtelfarbe.
Um mein Jiu Jitsu zu verbessern, suchte ich bei meinen Trainingspartner:innen nach neuen Techniken, Sichtweisen und Motiven. Viele, mit denen ich mich unterhalten habe, pflegen eine beeindruckende Leidenschaft zu diesem Sport. Einige von ihnen stehen morgens früher auf, um noch vor der Arbeit zwei Stunden lang zu trainieren und kommen am Abend dann noch in das reguläre Training. Hut ab vor so viel Disziplin und Ehrgeiz. Für diesen Artikel entschied ich mich jedoch mit der Person zu sprechen, die allen anderen die Möglichkeit gibt, so viel trainieren und lernen zu können: Coach, Gründer und Inhaber von Elements Jiu Jitsu, Maximilian Alkofer.
Was fasziniert dich an Jiu Jitsu?
Maximilian Alkofer: Was mich daran fasziniert hat, ist letztlich die Effektivität, die nicht auf Brutalität, sondern auf Raffinesse beruht. Vor allem die Erkenntnis, dass jeder Körpertyp kleinere Anpassungen für grundsätzliche Techniken erfordert, hat meine komplette Denkweise verändert.
Welche Auswirkungen hat der Sport auf dein persönliches/soziales Leben?
Maximilian Alkofer: Der Sport hat mich persönlich extrem verändert und mich sowohl charakterlich als auch physisch weitergebracht. Es gibt im JJ keine Ausreden, zumindest keine nachhaltigen Ausreden für Niederlagen. Letztlich liegt es an einem selbst und an der eigenen Entwicklung. Hier ist es nicht möglich jemand anderes dafür verantwortlich zu machen (die Trainer mal ausgeklammert), sondern letztlich wird Fleiß schlicht belohnt. Ich habe diese Denkweise auch auf viele andere Sachen in meinem Leben übertragen und mir damit sehr viel Ärger erspart. Man nimmt viel mehr Rücksicht auf sein Gegenüber und geht wesentlich sorgsam und achtsamer mit den Mitmenschen um. Am besten ist allerdings das Teamgefühl, das man beim Kampfsport entwickelt. Die Atmosphäre und das Drumherum finde ich immer noch am wichtigsten.
Max, was hast du realisiert, nachdem du angefangen hast, zu unterrichten?
Maximilian Alkofer: Nicht nur ist nicht jeder Mensch gleich, sondern jeder Mensch ist anders. Man kann nicht Schema X über jede:n drüber stülpen und meinen, dass dadurch jede:r super fair und gut behandelt wird. Jede:r ist individuell zu behandeln und nachhaltig weiter zu bringen, egal welches Talent oder welchen Fleiß der:diejenige mitbringt. Ich habe gemerkt, dass mein Job im Wesentlichen darin besteht, Menschen verstehen zu lernen und zuzuhören. Genau das habe ich früher viel zu wenig gemacht. Das sehe ich eigentlich als wertvollste Erkenntnis an.
Wie geht es jetzt weiter?
Im Großen und Ganzen verändert sich nicht viel. Ich werde weiterhin vier- bis fünfmal die Woche trainieren, langsam erlernte Techniken verbessern und neue versuchen zu meistern. Das Ziel ist selbstverständlich der schwarze Gurt, aber bis dorthin ist es noch ein langer und anspruchsvoller Weg. Wie Max es bereits so treffend gesagt hat: Es gibt im JJ keine Ausreden. Es liegt an einem selbst und an der eigenen Entwicklung, letztlich wird Fleiß schlicht belohnt.
Beitragsbild: © Fight Lounge
Alle restlichen im Beitrag benutzten Bilder sind vom Elements Jiu Jitsu Regensburg.