Feminis:muss: Leere Lust
Eine Kurzgeschichte über über Lust und Liebe und alles dazwischen.
– von Anna-Lena Brunner
Lise läuft. Und läuft. Und läuft. Und kommt nicht vom Fleck. Die weißen Wände des Flughafenareals ziehen an ihr vorbei und verschwimmen dabei zu einem trüben Nebel, der ihre Füße noch träger und schwerer macht. Ihr Herz klopft. Und klopft. Und klopft. Und das dumpfe Dröhnen scheint plötzlich nicht mehr aus ihrem Inneren zu kommen, sondern direkt aus der Wand neben ihr. Lise schlägt die Augen auf. Und blickt auf einen sternenübersäten Rücken. Oder sind es doch bloß Sommersprossen? Das stumpfe Klopfen des Goa-Tracks, der durch die dünnen Wände fließt, sickert in ihr Bewusstsein, durch sie hindurch und bleibt an Erinnerungen von letzter Nacht hängen. Stroboskoplichter in irgendeinem verqualmten Raum irgendwo in der Stadt. Horoskopdichter auf irgendeinem klebrigen Sofa in irgendeinem nebligen Zimmer. Sie spürt seine Blicke auf ihr und ihr ganzer Körper erwacht endlich wieder zum Leben. Ein kurzes, keckes Spähen später schlendert er bewusst lässig durch den Menschenstrudel auf sie zu und sein verschmitztes Grinsen lässt keine Zweifel zu. Lise streicht ihm über die Wangen. Die kratzigen Bartstoppeln kitzeln lustig an ihren Fingerkuppen. Die kratzige Stimme kitzelt lustig an ihrem Selbstbewusstsein. Wieder. Sagt er: »Du, ich muss jetzt dann an die Uni und mein Mitbewohner mag das nicht so gern, wenn fremde Leute bei uns sind. Ich will dich jetzt nicht rausschmeißen oder so, weißt du, nur…« Lise läuft und kommt nicht vom Fleck. »Klar, kein Problem. Meine Schicht fängt eh bald an«, lügt sie betont unbekümmert und kümmert sich um ihre Unterhose. Die liegt nämlich in einem verknoteten Knäuel auf dem Boden. Wie eine Haut, die sie abgelegt hat, um der Leere in ihr für einen kurzen Moment zu entkommen. Sie steigt in die Unterhose, zieht sich die verwelkte Haut, die ihr nicht mehr passt, nie passt, wieder an. Klamm an ihren wunden Vulvalippen. Traurig lächelt sie zu Sternenrücken rüber. Der ist nur mit seinem Handy beschäftigt und macht einen abwesenden Eindruck. »Ich pack’s dann mal«, wispert Lise und schleicht auf Zehenspitzen aus dem schweißigen Zimmer, ohne nochmal zurückzublicken. Als sie auf unten auf der Straße steht, schneidet ihr der kalte Wind mit einer solchen Wucht ins Gesicht, sodass sie nicht weiß, ob sie deswegen weint oder weil sie einfach nicht davon loskommt. Von unbedeutenden Liebeleien, die leer sind und bedeuten, dass sie nicht genug ist und nie sein wird. Gänsehaut überzieht ihre nackten Beine, die in kurzen, glitzernden, funkelnden, dreckigen, löchrigen Shorts stecken. Schwankend tritt sie den Weg zur nächsten U-Bahnstation an und muss kurz innehalten, um sich zu vergewissern, dass sie sich – nein – ihre Shorts sich nicht auflösen. In der U-Bahn sitzen traurige Gestalten, deren Gesichter wie betäubt, müde und fahl in die Leere starren. Lise ist eine davon und als es soweit ist auszusteigen, weiß sie nicht mehr genau, ob sie träumt oder nicht. Nein, sie träumt nicht, denn zuhause ist alles wie immer.
Es riecht leicht nach altem Fett, nach Nagellackentferner und Duftkerze von dm. Lise plumpst aufs Sofa und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Schmuddelig ist es in dieser Wohnung, in der sie seit 25 Jahren die gleichen Dinge tut. Essen, schlafen, hoffen, weinen, lachen, träumen. Alles immer überzogen von einer sanften Puderzuckerschicht aus Einsamkeit, die manchmal klebrig wird und sich in stinkenden Teer verwandelt, besonders wenn ihr Vater einen von den schlechten Tagen hat. Da geht sie auch heute noch, nach all dieser Zeit nur aus dem Zimmer, wenn es unbedingt sein muss. Einmal – das war an so einem Tag im Sommer, wenn die Stunden vom Tag runter tropfen, wie dickflüssiger Honig vom Butterbrot – nahm ihr Vater sie an die Hand und kaufte ihr ein Eis. Nicht so ein teures mit Waffel und Kugel und so. Sondern eins vom Kiosk nebenan, das man innerhalb von Minuten, ach was, Sekunden essen muss, weil sich die Eiskristalle sonst voneinander verabschieden und sich erst in einer pissgelben Pfütze am Boden wieder Hallo sagen. Lise freute sich. Aber die Freude blieb vorsichtig, weil ihr Vater, genau wie das Eis am Stiel, das sie in den Händen hält, blitzschnell die Form verändern konnte. Und das tat er dann auch. Gewaltig. Lise muss sich mit Gewalt aus den Erinnerungen reißen, weil sie sie sonst zerreißen. Sie steht auf vom Sofa und gießt sich einen Tag alten Kaffee in eine Tasse mit Sprung. Die bittere Brühe fühlt sich pelzig auf ihrer Zunge an und sie erschaudert. Bitter nimmt sie das Gebräu trotzdem mit und setzt sich an ihren Laptop. Die Zahlen verschwimmen vor ihren Augen, aber sie zwingt sich dazu, die Aufgaben zu lösen. Das Statistikseminar besteht sich schließlich nicht von selbst. Bald scheint dunstiges Morgenlicht durch ihre dreckigen Fenster und Müdigkeit tropft auf sie drauf, wie das heiße Kerzenwachs, das irgendein Typ mal unbedingt auf die empfindlichsten Stellen ihres Körpers drauf machen wollte, weil er das geil fand oder so. Sie fand’s einfach nur schmerzhaft, blieb jedoch reglos liegen, weil sie ihn bei sich haben wollte. Weil sie ihn lieben wollte. Weil sie wollte, dass er sie liebt. Und Liebe und Schmerz sind doch bekanntlich dasselbe oder nicht? Müde fühlt sie sich. So unendlich müde und schmutzig von all den Händen, die sie berührt, gewollt, aber nicht gehalten haben. Und so macht Lise das, was sie immer tut. Sie legt sich in ihr speckiges Bett, immer noch in ihren Klamotten von letzter Nacht, die nach Leere und Lust duften, und öffnet die App, die sie am Leben hält und gleichzeitig umbringt. Ganz langsam und sanft aber nur. Und bevor sie in einen unruhigen Schlaf fällt, verabredet sie sich mit Fred, der auf seinem Profil lustige Bilder hat, auf denen er mit Wein in Marmeladengläsern zu sehen ist. Schaut doch nett aus. Aber das sind dann immer die, die nett sind, die dich am Ende wund und offen irgendwo liegen lassen und sich dabei nicht einmal die Mühe machen, dir in die Augen zu schauen, wenn sie nach getaner Arbeit unbeteiligt das Kondom auf den Boden schmeißen. »Was soll’s«, denkt sich Lise und diese notwendige Gleichgültigkeit ruft ein Prickeln in ihr hervor, das sie immer spürt, wenn sie sich wieder bewusst der Gefahr aussetzt. Der Gefahr, geliebt und gehasst zu werden und alles gleichzeitig. Denn das ist genau der Moment, nach dem sie sich so sehnt. Der ihr ganzes Denken bestimmt und den sie einfach nicht loslassen kann. Der Moment, wenn sie mit jemandem schläft, ganz egal mit wem, und sich so sehr spürt, dass sie gar nichts mehr spürt. Körper. Fühlen. Nicht. Fühlen. Körper. Denn dann und nur dann ist sie endlich, endlich frei und für einen kurzen Moment, eben diesen einen kurzen Moment, ist der Schmerz weg und sie ist vollkommen leer. Aber nicht dieses graue, schleimige, traurige leer, sondern weich und wohlig leer. Und dann? Dann geht der Moment vorbei und ihr ganzes Dasein lechzt danach, wieder leer zu sein und sie hat solch eine Lust nach Leere, dass sie fast überschwappt davon.
Fred steht vor der U-Bahnstation, wie abgemacht. Zwei Bier in der Hand. Er hat diesen typischen Ausdruck. Nervös suchend, gemischt mit unsicher und einer Prise erregt. Als er Lise aus der Tiefe aufsteigen sieht, liegt ein erleichtertes Lächeln auf seinen Lippen. Lise weiß auch genau warum. Sie sieht gut aus, so zurechtgemacht wie sie das immer macht. Betont unbetont, etwas nachlässig, etwas schluderig, aber schön genug, um als künstlerisch-boho durchzugehen. Typen, wie Fred stehen auf sowas, weiß Lise. Das weckt in ihnen eine Neugier nach diesem hilflosen Wesen, das so schön ist und traurig zugleich. Schön traurig, dass sie denken, ein schneller Fick hilft da. Nein, das ist schon Liebe, korrigiert sich Lise schnell, belügt sich Lise schnell. Schneller, immer schneller, schreitet der Abend also voran. Schneller, schneller ruft sie dann irgendwann und als es dann endlich wieder soweit ist, als es dann endlich wieder vorbei ist, küsst Fred sie auf den Mund. Irgendwie anders als sonst immer alle. Ganz weich und wohlig und Lise ist verwirrt und denkt sie irrt bestimmt, wenn sie denkt, dass das irgendwas zu bedeuten hat. Er fragt sie, ob sie Hunger hat und sie weiß gar nicht, was sie darauf antworten soll, denn Fred, weißt du denn gar nicht, dass sie immer Hunger hat, immer Hunger hat. Er deutet ihr Schweigen als Zustimmung und macht sich in der Küche zu schaffen. Als Lise der Duft nach angebratenen Zwiebeln in die Nase steigt, wird ihr schlecht. Sie weiß nicht, was das hier soll, denn eigentlich ist das doch immer ein Tanz mit Schritten, die sie schon so lange auswendig kennt. Und dieser Fred bricht einfach daraus aus und wirft sie nicht hinaus, weil Mitbewohner*in/Freund*in/Nachbar*in natürlich wichtiger sind als Lise. Ihr Herz klopft und klopft und klopft und zu den Zwiebeln gesellt sich der Geruch von Lises Schweiß. Leise sammelt sie ihre Sachen vom Boden auf, zieht sich an und tappt auf Zehenspitzen hinaus. Das ist gut, darin ist sie gut, denn jetzt ist ihr der Tanz wieder vertraut. Sobald die sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen hört, läuft Lise. Weg. Und läuft. Und läuft. Aber auch dieses Mal kommt sie nicht vom Fleck.
Beitragsbild: ©Callie Gibson | Unsplash