Mov:ement: »Uuuuuund – (kein) Schnitt!« Von der Kunst, nicht zu schneiden.
Ein Trend, der sich im jüngeren (im weitesten Sinne) Film immer mehr bemerkbar macht, ist eine Schnitt-Technik, nach der längere Sequenzen oder ganze Szenen ohne einen einzigen (sichtbaren) Schnitt inszeniert werden. Was es damit auf sich hat, und in welchen Variationen dieser »One-Shot« oder »One-Take« vorkommen kann, erfahren wir heute.
von Julian Tassev
Zuerst sei einmal gesagt, dass die teilweise Kopfschmerz-verursachend schnellen Schnitte vor allem in Action-Filmen eine relativ neue Erscheinung sind. Hier sind vor allem »The Bourne Supremacy« und »The Bourne Ultimatum« von Regisseur Paul Greengrass zu nennen, die mit ihrer durchschnittlichen Schnitt-Frequenz von unter zwei Sekunden ein Gefühl der Verwirrung und der Orientierungslosigkeit hervorrufen wollen, um uns in die Schuhe des unter Amnesie leidenden Agenten und Protagonisten Jason Bourne zu versetzen. 2008 – nur ein Jahr nach »Ultimatum« – versuchte sich auch Bond-Regisseur Marc Forster in »Quantum of Solace« an dieser Technik und stieß auf jede Menge Protest und Unzufriedenheit. Der Action war kaum zu folgen. Es gehört also offensichtlich mehr dazu, als nur Bilder schnell aneinander zu schneiden.
Generell haben wir uns vor allem im Hollywood-Blockbuster an schnelle Schnitte und kurze Verschnaufpausen gewöhnt. Wenn nun also ein Film bewusst die Kamera laufen und das Bild verweilen lässt, ist dies auffällig und zieht Aufmerksamkeit auf sich. Die Möglichkeit, damit den Blick der Zuschauer*innen auf bestimme Dinge oder weiterführende Ideen, die ansonsten schwer zu kommunizieren sind, zu lenken, möchte ich heute untersuchen. Dafür habe ich ein paar wichtige Unterteilungen vorgenommen.
Zum einen haben wir Szenen oder gar komplette Filme, die wirklich ohne Schnitt auskommen. In Sebastian Schippers »Victoria« von 2015 wird die junge Spanierin Victoria nach einer durchfeierten Nacht in Berlin mit einer Gruppe Jungs in kriminelle Machenschaft verwickelt. Auch wenn sich die 138 Minuten vor allem anfangs etwas ziehen, muss man dem gesamten Team jedes Lob aussprechen – der Film entstand in einer einzigen Aufnahme. Kein Schnitt. Die Kamera-Crew folgt der kleinen Gruppe über zwei Stunden lang auf Schritt und Tritt, von Nachtclubs auf Dächer, über die Straßen Berlins bis in ein Auto, mit welchem die Schauspieler*innen auch noch falsch abbogen. Das Team reagierte sofort und konnte den Fehler auffangen, er ist sogar Teil des fertigen Films. Insgesamt drehten sie drei Versionen, die letzte war wohl die beste. Wenn am Ende des Films die Sonne über der deutschen Hauptstadt aufgeht, spüre ich förmlich, wie sich das gesamte Team jubelnd in die Arme fällt. Eine organisatorische Meisterleistung.
Zum anderen gibt es Filme, die durch eine Reihe von zusammengefügten Segmenten die Illusion eines »One-Takes« erzeugen wollen. So besteht zum Beispiel der Weltkriegs-Film »1917« von Sam Mendes und Kameramann Roger Deakins (und einer fantastischen Crew) aus einer ganzen Reihe von langen Einstellungen, die durch (teilweise) geschickt versteckte Schnitte als ein Ganzes vermarktet wurden – zu durchschlagendem Erfolg. Bereits Alfred Hitchcocks »Rope« von 1948 bediente sich dieser Technik. In dieser Adaption des gleichnamigen Theaterstücks von Patrick Hamilton begehen zwei stinkreiche Jura-Studenten den vermeintlich »perfekten« Mord an ihrem Freund David. Nur um es sich selbst zu beweisen, laden sie noch am selben Abend zu einer Cocktail-Party ein, während Davids Leiche in einer Truhe mitten in der Lounge liegt. Der Film besteht aus insgesamt zehn unterschiedlich langen Szenen, die denen Schauspieler*innen jede Menge Raum geben, absolute Bestleistungen abzuliefern. Unglaublich: Der Film wurde 1948 in vielen Städten nicht gezeigt. Der Grund: die vage angedeutete Liebesbeziehung zwischen den beiden Mördern. »Rope« war außerdem einer der lange verschollenen »Fünf Hitchcocks«, fünf Filme aus der gleichen Zeit, deren Rechte der Regisseur sich selbst sicherte und seiner Tochter Patricia vermachte. Erst 1984 waren sie wieder in Kinos zu sehen.
Dann müssen wir noch eine weitere wichtige Unterscheidung treffen: bewegte und unbewegte »One-Takes«. Beide können sehr beeindruckend sein; beide können sehr unterschiedlich eingesetzt werden. Eines der vielleicht unangenehmsten Beispiele gleich vorweg: Gaspar Noés »Irréversible« zeigt uns – wie die bereits genannten Filme – die Ereignisse einer Nacht in Paris in mehreren langen Einstellungen, die größtenteils improvisiert wurden. Der Twist: Die Geschichte wird rückwärts erzählt, jede Szene endet also am Beginn der vorherigen (Nolan lässt grüßen). Zu Beginn suchen die Freunde Marcus und Pierre in einem BDSM-Club für homosexuelle Männer nach Le Tenia, der Marcus´ Freundin Alex (Monica Bellucci) vergewaltigt hat. Was sie mit ihm machen, als sie ihn finden, ist kaum zu beschreiben, aber zumindest übertrieben und sichtbar »getrickst«. Nur wenige Szenen später werden wir leider Zeug*innen der Vergewaltigung an sich, für welche die Kamera größtenteils für maximalen Effekt einfach still daneben liegt. Wir fühlen uns diesem Mann genauso hilflos ausgesetzt wie Alex; viele verließen hier wohl damals das Kino. Den restlichen Film, der uns den eigentlich so schönen, unbeschwerten Tag im Leben der drei Freund*innen zeigt, nimmt man* schon fast wie durch eine außerkörperliche Erfahrung wahr. Wirklich ein Film, den ich nie wieder sehen möchte.
Auch Regisseur Steve McQueen setzt einen unbewegten »One-Take« ein, um die wichtigste Szene seines Films »Hunger« von 2008 hervorzuheben. »Hunger« zeigt die Ereignisse und die unmenschlichen Bedingungen, die 1981 zum berühmten Hungerstreik der Insassen des Nord-Irischen Maze-Gefängnisses führten. Zehn republikanische Insassen ließen dabei ihr Leben, als erstes Bobby Sands, hier verkörpert von Michael Fassbender. Sands selbst wird erst nach circa 25 Minuten erstmals gezeigt, gleich im Anschluss folgt die Schlüssel-Szene. In einem etwa 17-minütigen »One-Take« diskutiert Sands den geplanten Hungerstreik mit seinem Priester, gespielt von Liam Cunningham. Die Kamera bleibt dabei ununterbrochen in derselben Position, unzählige Zigaretten werden geraucht. Um sich auf diese Herausforderung vorzubereiten, zogen die beiden Schauspieler über kurze Zeit zusammen und probten mehrmals täglich ihren Dialog. Am ersten Drehtag hatten sie die Szene nach nur vier Versuchen im Kasten. Sie bleibt außerdem im Kopf, weil ansonsten im gesamten Film kaum ein Wort geredet wird.
Bleiben noch die bewegten »One-Takes«. Film-Nerds werden hier wohl sofort an Martin Scorseses (mal wieder) »Goodfellas« denken. Als Gangster Henry Hill seine Freundin und spätere Frau Karen erstmals ausführt, lädt er sie in einen glamourösen Copacabana-Nachtclub ein. Die Kamera folgt den beiden dabei vom Auto über die Straße, durch den Hintereingang und die Küche bis in den Club und bis zum reservierten Tisch. Alle paar Sekunden muss Henry Hände schütteln und Kollegen begrüßen, er ist der Star der Show. Natürlich macht das alles mächtig Eindruck auf Karen und uns. Die Sequenz dient als Einführung in das Leben, welches ihm noch bevorsteht, und gleichzeitig in die späteren Eskalationen des Films. Scorsese berichtet, dass der »One-Shot« ungeplant entstand, da die Crew keine Erlaubnis für den Haupteingang des Clubs bekam. Die Szene entstand also kurzerhand aus einer unüberwindbaren Hürde und schrieb mal eben Filmgeschichte.
Auch in der Serien-Welt sind »One-Takes« mittlerweile zu einer Art Prestige-Projekt geworden. So findet sich zum Beispiel recht zu Beginn jeder der drei Staffeln von Marvels »Daredevil« jeweils eine gigantische Kampf-Szene, die in einer Einstellung abgedreht wurde. Hierbei vermöbelt der blinde Anwalt am Tag/maskierter Rächer bei Nacht Matt Murdock unzählige Gangster, während er selbst unmenschliche Prügel einsteckt. Besonders spaßig ist es, nach den mehrfachen Auswechslungen von Schauspieler Charlie Cox und dessen Stunt-Man Ausschau zu halten. Denn in der dritten Staffel kämpft sich dieser – erstmals ohne Maske – durch ein Dutzend Killer und einen Gefängnisaufstand, führt währenddessen sogar eine längere Unterhaltung mit einem Gangster-Boss. Alles ohne Schnitt. Auch »Game of Thrones« setzte mehrere Schlachten, die unser Held Jon Snow schlagen musste, mit brillanten »One-Takes« in Szene. Unvergessen dabei die Kamerafahrt durch die gesamte Schwarze Festung, die von Wildlingen überrannt wird.
Einer meiner Favoriten findet sich allerdings in der Netflix-Adaption von Shirley Jacksons »Haunting of Hill House« von 2018. In der Schlüssel-Episode, die die Ereignisse von damals mit jenen in der heutigen Zeit verbindet, finden sich die Geschwister der Familie Crain und Vater Hugh zur Beisetzung der verstorbenen Schwester Nell ein. Die Episode besteht wieder aus mehreren langen Kamerafahrten, die sogar in der Zeit hin und her springen. In einer unscheinbaren Kamera-Rotation spricht Hugh zum ersten Mal seit Jahren seine versammelten Kinder an. Diese sind in der zweiten Fahrt der Kamera plötzlich wieder Kinder, nur wenige Sekunden später sitzen wieder die Erwachsenen da. Wer hier blinzelt, hat es auch schon verpasst. Wie gerne würde ich hiervon einmal die B-Roll sehen.
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