Heute ist Hedonismus
Die erste postcoroniale Nacht im Regensburger Nachtleben weckt gute und böse Geister.
von Moritz Müllender
Seichte Akustikgitarre – gezupft. Du hörst die Finger auf den Saiten hin und her rutschen. Clueso singt durch die Kopfhörer ins Ohr: »Doch ich fühl mich federleicht, weil es sich fast immer lohnt. Und so erscheint, dass nichts so bleibt wie es ist, fast schon wie gewohnt. Falls mich das Neue dann berührt, tanz ich zuerst für mich allein. «
Das war’s! Maskenpflicht? – Vorbei. Leere Altstadt? – War einmal. Corona scheint wieder zu einer überteuerten mexikanischen Biermarke, aus einer Zeit vor Social Distancing, Maskenpflicht und völkischen Esos, geworden zu sein. Du fliegst wieder durch die Nacht. Ohrenbetäubendes Menschengetuschel. Ein Falafel, der die Hälfte seines Inhalts auf den Asphalt verliert. Ungeduldige Schritte, die erwartungsvoll die nächste Kneipe finden wollen. Eine Freundin spricht über die Lockerung. Zehn Personen aus zehn Haushalten dürfen sich treffen. Wir witzeln über die Absurdität des Offensichtlichen. Ein Scherz über die Beschränkungen folgt. Er klingt zu sehr nach Querdenken. Themenwechsel!
Nur jede zweite Lieblingsbar ist geöffnet. Die für immer Geschlossenen feiern die Auferstandenen, als siegreich Gefallene. So romantisch verklärt würden das die Betreibenden der betroffenen Schankbetriebe sicher nicht beschreiben. Doch heute ist Hedonismus. Zumindest für alle die, die ihn sich noch leisten können, die ihn – auch wenn sie es nicht zugeben wollen – nie aufgegeben haben. Du genießt die Reizüberflutung, die Überforderung pur, das unaufhörliche Prasseln von Gelächter. Heute weint nicht, wer sich ein Bier leisten kann.
Allein die Anfahrt ist Genuss, ist Kitsch pur: ein Joint, geraucht am offenen Dachfenster – die Zukunft fest im Blick, ein Wegbier auf dem Fahrrad – Slalom um menschliche Pylonen fahrend. Du hast dich noch mehr gefunden während der letzten zwei Jahre. Corona ist keine Self-Care-Lektion. Dennoch ist da Stolz. Du hast auf dich geachtet, hast jeden latent verschwörungstheoretisch klingenden Nonsens sachlich auseinandergenommen, To-Do-Listen geschrieben, um deinen Alltag zu strukturieren und dich klar gegen codiert-antisemitische Verschwörungsmythen positioniert. Der Teil der Guten, der die wohlverdienten Früchte von zwei Jahren Zurückhaltung, Entbehrung und Solidarität genießt, fühlt sich erlöst.
Vor den Augen findet das Spektakel Regensburger Altstadt statt, im Kopf: Indien, leidende Kulturschaffende und rassistische Gewalt gegen Asiat*innen. Einige Menschen tanzen flinken Fußes auf dem Kopfsteinpflaster. Heute bitte keine globalen Ungerechtigkeiten. Eine Unterhaltung mit einem Menschen bei einer zufälligen Begegnung unter freiem Nachthimmel – mit einem Bier in der Hand – macht mehr Spaß, als die gleiche Person – popelnd und stirnrunzelnd – in der Flimmerkiste, beim Ersinnen eines Gedankens zu beobachten, der die – ohne hin schon viel zu langwierige – Zoom-Session, nochmal in die Länge zieht. Kurse sollen bald wieder präsent stattfinden, mit Dozierenden, die so fern und unerreichbar scheinen, wie Hollywoodstars.
Inzidenzwerte, Impfkapazitäten, Lockdown, das alles scheint Schnee von gestern. Zwangslizenzen und Patentfreigaben sind Zukunftsmusik. Madonna singt »La Isla Bonita« und alle Insulaner*inne stoßen an.