Mov:ement: Dogma 95, Susan Sontag und Martin Scorsese – der Niedergang des Kinos
Während sich die Kinos weltweit auf die große Wiedereröffnung vorbereiten, untergeht die Industrie – nicht nur pandemiebedingt – einen gigantischen Wandel, der mit Online-Streaming-Diensten seinen Anfang nahm und weitreichende Konsequenzen für die Filmkunst hat.
von Julian Tassev
Als Regisseurin, Schriftstellerin und Publizistin Susan Sontag am 25. Februar 1996 ihre gnadenlose und zutreffende Abhandlung über den desolaten Zustand des modernen Kinos – »The Decay of Cinema« – in der New York Times veröffentlichte, konnte sie noch nicht ahnen, wo wir nur 25 Jahre später stehen würden. Das Kino beginnt für sie mit dem bezeichnenden Moment, als im Film »The Arrival of a Train at La Ciotat Station« der Brüder Lumière im Jahr 1896 der titelgebende Zug in die Station einfährt und die Zuschauer*innen so sehr erschüttert, dass manche es nicht ganz glauben können. Grundsätzlich spaltet sich laut Sontag das Kino zu Beginn in zwei Lager, auf der einen Seite als Darstellung des echten Lebens auf der Leinwand (wie im Beispiel des Zugs), auf der anderen Seite als fantastische Reise voller Innovation, Kunst und Illusionen, was sie Regisseur Georges Méliès zuordnet. Allerdings sind beide doch nur verschiedene Wege zum gleichen Ziel: die Erzeugung von Gefühlen, von Wundern und einzigartigen Erfahrungen.
In ihrem Essay beschreibt Sontag den Wandel des Kinos und der Filmkunst über verschiedene Phasen, von der Nachkriegszeit in Hollywood über die einzigartigen Wellen voller interessanter, wegweisender Produktionen in Europa bis zu einem Punkt in der Mitte der 90er Jahre, wo das »Blockbuster«-Kino den Markt fest im Griff hat (ironischerweise erschien nur wenige Wochen später der Coen-Kult-Klassiker »Fargo«). Sie prangert vor allem die stetig gesunkene Erwartungshaltung für die Qualität dieser Filme und die gleichzeitig ins unermessliche gestiegene Erwartungshaltung für den kommerziellen Erfolg dieser Filme an. In einem System, in welchem der entscheidende Faktor die Kinokassen sind, haben einzigartige, visionäre Stimmen keinen Platz mehr. Dies stimmte 1996, und es stimmt heute. An dieser Stelle sollte ich klarstellen, dass ich zwar durch und durch cinephil, aber definitiv kein Film-»Snob« bin. Auch ich kann es kaum erwarten, wieder in einem vollgepackten Kinosaal riesige Blockbuster wie den neuen »James Bond« oder die nächsten »Mission Impossible«-Teile zu sehen. Diese Filme sind harmlos, leicht verdaulich und kompetent gemacht. Problematisch wird es für mich, wenn solche Filme mit einfühlsamen, vergleichsweise günstig produzierten Werken von spannenden Künstler*innen über einen Kamm geschert werden, was mich zu meinem Lieblingsfilm des vergangenen Jahres führt.
»Druk« (oder »Der Rausch«) des dänischen Regisseurs Thomas Vinterberg liefert eine oft komische, meist tragische aber immer unendlich unterhaltsame Charakterstudie über vier Lehrer, die den Effekt von geringen Mengen Alkohol in ihrem Schulalltag untersuchen wollen. Mads Mikkelsen sowie der restliche Cast sind sofort sehr leicht ins Herz zu schließen und die Entstehungsgeschichte gibt dem Film noch eine völlig andere Dimension – nur vier Tage nach Drehbeginn verlor Vinterberg seine Tochter Ida bei einem Autounfall. Diese war maßgeblich an der Entstehung beteiligt, sollte auch eine kleine Rolle übernehmen. Nach diesem tragischen Vorfall nahm der Film eine etwas andere Gestalt an, das Ende wurde positiver und letztlich sehr lebensbejahend. Allerdings lässt sich mit »Druk« auch eine interessante Ironie feststellen, die an Thomas Vinterberg laut Interview natürlich auch nicht vorbeigegangen ist. So schuf Vinterberg nämlich 1995 unter anderem mit Regisseur-Kollege Lars von Trier das Manifest »Dogma 95«. Im Sinne der »Nouvelle Vague« in den 1950er Jahren sollte dieses Manifest regeln, wie zukünftige Filme der beteiligten Regisseure zu entstehen und schließlich auszusehen haben. In einer »Anti-Action-Blockbuster«-Bewegung sollten diese Filme zum Beispiel auf den Einsatz von Spezialeffekten, Filtern, Waffengewalt und extravaganter Beleuchtung verzichten. Außerdem mussten sie im Hier und Jetzt angesiedelt sein und der Regisseur durfte an keiner Stelle erwähnt werden. Auch wenn die Bewegung an sich offiziell nur knappe 10 Jahre anhielt, sorgte sie doch für einen Ruck im europäischen Film und wurde hierfür auch 2008 mit dem Europäischen Filmpreis für die »Beste europäische Leistung im Weltkino« ausgezeichnet. Zwölf Jahre später gewinnt Thomas Vinterberg für »Druk« einen Academy Award als »Best International Feature Film«, sein Film ist überaus erfolgreich (die Daumen für einen deutschen Kinostart im Juli sind gedrückt) und sein Name ist in aller Munde. Ein ironischer Hoffnungsschimmer für das moderne Kino.
Auch Regie-Legende Martin Scorsese, Filmkurator und waschechter New Yorker durch und durch, äußerte erst vor wenigen Jahren seinen Unmut und seine Angst um »das Kino«, wie er es kennt. In einem Interview sagte er, die Marvel-Superhelden-Filme seien kein Kino im klassischen Sinne, sondern eher wie Attraktionen in einem Freizeitpark. Es gibt kein Risiko, jede Menge Illusionen und kurze Momente der Euphorie, nur keinen bewegenden, bleibenden Eindruck. Hierfür wurde er online unter anderem scharf kritisiert und als alter, verbitterter Mann dargestellt, woraufhin auch er sich in der New York Times verteidigte. Er hat kein Problem mit diesen Filmen, sie geben ihm nur nicht das, was er sich Zeit seines Lebens von Kinoerfahrungen wünscht und erwartet.
Ich bin sicherlich nicht der erste mit dieser brillanten Einschätzung, aber für mich liegt das Problem ganz klar in der Klassifikation und Unterteilung von Filmen nach Genres oder anderen, oft veralteten Schubladen sowie in deren Präsentation auf gängigen Streaming-Anbietern. Außerdem haben auch unheimlich talentierte Filmemacher*innen oder Entertainer*innen auf YouTube oder Twitch dazu beigetragen, dass der Markt an »anschaubaren Inhalten« so übersättigt ist, dass die Grenzen zwischen diesen Unterhaltungsmedien mehr und mehr verschwimmen. In einer Welt, in der jeder Anbieter um jede Sekunde seiner Kund*innen kämpft, wird Qualität oft links liegen gelassen, um eine möglichst große Bandbreite an Inhalten zu liefern. Streaming an und für sich stellt für Scorsese übrigens kein großes Problem dar, so entstand sein letzter Film »The Irishman« schließlich in Kooperation mit Netflix. Als schade und gefährlich sehe ich es allerdings, dass solche Filme auf diesen Plattformen nur eine Kachel entfernt von Schund wie »365 Days« oder »The Kissing Booth« zu finden sind. Wie sollen gelegentliche oder uninformierte Konsument*innen hier herausfinden, welche Filme besonders sehenswert sind? Wenn die Plattform schon vor Ende des Abspanns die nächsten drei Filme per nervigen Trailern anpreist, wie soll ich da das Gesehene verarbeiten oder einordnen?
Und hier kommt eigentlich das Kino ins Spiel: Das Kino war jahrzehntelang der Ort, an dem die besonderen, einzigartigen Filme zu finden waren. Selbst wenn ein Film nicht beeindruckend war, so ist es die Kinoerfahrung doch jedes Mal. Und gegensätzlich zu dem, was Sony, Samsung und Co. uns vermitteln wollen, lässt sie sich in den eigenen vier Wänden niemals nachempfinden, egal wie groß der Fernseher und wie laut die Soundbar ist. Das Kino ist ein magischer Ort, der zurecht mit den Aussagen Sigmund Freuds über das Träumen in Verbindung gebracht wird. Hier gelten eigene Regeln, die zwar gebogen, aber nie gebrochen werden. Es ist kein Zufall, dass meine spannendsten Kinoerfahrungen der letzten Jahre auf Filmfestivals entstanden sind. Hier sitze ich gemeinsam mit genauso Film-Verrückten in einem überfüllten, stickigen Saal und weiß nicht einmal, welcher Film gleich startet. Jemand betritt die Bühne und gibt eine kurze Einführung, vielleicht ist sogar der*die Regisseur*in anwesend. Die Filme haben meist noch nicht einmal einen deutschen Start, sind provozierend, manchmal schockierend, manchmal völlig Banane, aber garantiert niemals »nur der neueste Superhelden-Film, in dem die Welt gerettet werden muss.«
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