Mov:ement: »Lars and the Real Girl«
Im Ranking der Gefühle belegt die Einsamkeit definitiv einen der letzten Plätze. Wer einsam ist – und das vor allem in der jetzigen Pandemie – kann die Welt wie durch einen grauen Schleier wahrnehmen oder sich lediglich wie ein*e Beobachter*in des menschlichen Lebens hinter einer Plexiglasscheibe fühlen. Einsamkeit ist ein Gefühl, welches im schlimmsten Fall krank machen kann. In der Tragikomödie »Lars and the Real Girl« sogar sehr krank.
von Celina Ford
Ryan Gosling kennt man* heute vor allem als den Hollywood-Experten für schweigsame, zurückgezogen lebende und fast schon stoische Charaktere. »Drive« (2011), »The Place Beyond the Pines« (2012), »Only God Forgives« (2013) oder »Blade Runner 2049« (2017) dienen hier nur als einige Beispiele. Doch seine oftmals übersehene Rolle als fast schon schmerzhaft einsamer Lars Lindstrom in »Lars and the Real Girl« (2007) ist die womöglich extremste und herzzerreißendste Manifestation dieses von ihm gemimten Charakterzugs.
Einsam, einsamer, Lars Lindstrom
Irgendwo im verschneiten Nordosten der USA: Der Himmel ist grau, die Wolken hängen tief und die Landschaft ist karg. Lars Lindstrom steht am Fenster seines farblosen Häuschens, wobei es eine umgebaute Garage wohl besser trifft. Er trägt eine hellblaue Decke um den Hals, die er fest an sich drückt. Wie wir später erfahren, hat seine Mutter, die während der Geburt verstorben ist, diese für ihn gehäkelt. Sie ist das einzige, was ihn ihre Nähe spüren lässt.
Aus dem gegenüber liegenden Haus stiehlt sich eine freundlich wirkende Frau. Sie stapft durch den Schnee und klopft bei Lars, der sich kläglich zu verstecken versucht. Es ist seine Schwägerin Karin (Emily Mortimer), die ihn zum Frühstück einlädt. Die Familie seines Bruders Gus (Paul Schneider) ist so ziemlich der einzig bedeutende, menschliche Kontakt, den er zu haben scheint. Dennoch lehnt Lars unbeholfen ab und meint, dass er in die Kirche müsse. Es sei ja schließlich Sonntag.
Auch in der Kirchengemeinde ist Lars eher eine Randfigur. Obwohl ihn die Menschen mögen – er ist schließlich nett und hilfsbereit – sitzt er doch alleine in der letzten Reihe und wirkt einfach nur unglaublich verloren. Die Situation ist klar: Lars ist einsam. Er kann, ob er will oder nicht, keine wirkliche Nähe zu anderen aufbauen. Und von den zwei Menschen, zu denen er eine emotionale Bindung hat, versucht er sich zu distanzieren. Das bereitet auch Karin, die schwanger ist, Sorgen.
Unter der Woche gleicht Lars‘ Leben einer Abfolge identischer Tage. Er arbeitet in einem langweiligen Bürojob und nach dem Wechsel in die in einer Plastiktüte mitgeführten Anzugschuhe wird sich mit seinem leicht schrulligen Cubenachbarn Kurt (Maxwell McCabe-Lokos) der Kaffeedienst geteilt. Für die Flirtversuche seiner neuen Kollegin Margo (Kelli Garner), die auch Mitglied im Kirchenchor ist, ist Lars absolut unempfänglich.
Doch ein kurioses Ereignis schafft es, die Monotonie zu durchbrechen und Lars aus seinem grauen Alptraum zu befreien: Es ist der Tag, an dem ihm sein Kollege eine Website, auf der man* persönlich konfigurierbare Sexpuppen bestellen kann, zeigt. Tatsächlich wartet ein paar Wochen später eine große Holzkiste vor Lars‘ Haustür auf ihren neuen Besitzer, beziehungsweise Liebhaber. Darin: Bianca, eine Psychose in Menschengestalt. Lars glaubt nämlich, dass Bianca echt ist und mit ihm kommuniziert.
Der Schock für Gus und Karin ist dementsprechend groß, als sie feststellen müssen, dass Lars‘ Freundin eine Latexpuppe ist. Doch laut diesem ist Bianca eine Missionarin und Krankenschwester, die er über das Internet kennengelernt hat. Sie sei schüchtern, könne gut mit Kindern umgehen und sei einfach eine tolle Person. Zudem wäre es wegen ihrer religiösen Ideale sowieso keine sexuelle Beziehung.
Für Gus und Karin ist jedoch klar, dass Lars dringend Hilfe benötigt. Die Ärztin und Psychologin Dagmar Berman (Patricia Clarkson) beschließt, mit Lars unter einem Vorwand eine Therapie zu beginnen. Während Bianca einmal wöchentlich wegen ihres angeblich hohen Blutdrucks behandelt wird, versucht sie, Lars‘ Psychose auf den Grund zu gehen. Es müsse schließlich einen Grund geben, weshalb Bianca in der Stadt ist. Gus und Karin empfiehlt sie währenddessen, Bianca ebenfalls als einen lebendigen Menschen zu betrachten und die Gemeindemitglieder mit einzubeziehen.
Und tatsächlich: Nach etwas Überzeugungsarbeit machen alle mit. Die Mitglieder der Kirche, die Freund*innen von Gus und Karin und auch die Arbeitskolleg*innen von Lars. Bianca ist auf Geburtstagspartys eingeladen, wird ein Mitglied der Kirchengemeinde, geht zum Friseur und auf Shoppingtrips und wird sogar in der Vorlesestunde für die Kinder eingesetzt (na gut, sie hält ein sich selbst vorlesendes Buch). Schon bald wächst die leblose Puppe der ganzen Kleinstadt ans Herz.
Parallel zu Biancas Integration in das Leben der Stadtbewohner*innen macht auch Dr. Berman Fortschritte. So erfährt sie, dass sich Lars zeitlebens für den Tod seiner Mutter verantwortlich fühlte und schon früh auf sich allein gestellt war, da sein an Depressionen erkrankter und mittlerweile verstorbener Vater sich nicht ausreichend um ihn kümmern konnte. Der Auszug seines Bruders aus dem Familienhaus trieb Lars schließlich komplett in die Einsamkeit – eine Tatsache, die in Gus enorme Schuldgefühle auslöst. Zudem fürchte er wegen der Schwangerschaft um Karins Leben, da er Angst habe, dass sich die Ereignisse wiederholen könnten. Dr. Berman bemerkt jedoch auch, dass sich Lars‘ Probleme in physischen Reaktionen ausdrücken. So reagiert dieser beispielsweise empfindlich auf Berührungen und erleidet in ihrem Behandlungszimmer eine Panikattacke.
Wochen der Harmonie vergehen, doch nach einiger Zeit verliert selbst die rosaroteste Brille ihre Kraft. So auch bei Lars und Bianca. Mithilfe der Gemeinde führt Bianca inzwischen ihr eigenes Leben und hat wegen ihres vollen Terminkalenders immer weniger Zeit für Lars, was diesen zunehmend verärgert und seinen Frust an ihr auslassen lässt. Zudem entwickelt Lars inmitten dieser Beziehungskrise insgeheim Gefühle für seine Arbeitskollegin Margo. Doch betrügen würde er Bianca nie.
Es ist offensichtlich: Etwas tut sich in Lars‘ Innenleben. In dessen Einbildung verschlechtert sich der Gesundheitszustand von Bianca nämlich rasant. Es steht so schlecht um sie, dass sie sogar ins Krankenhaus gebracht werden muss. Doch auch in dieser Situation realisiert Lars nicht, dass er eine Puppe hat einliefern lassen. Für ihn hat Bianca nur noch wenige Tage zu leben, weshalb er nicht von ihrer Seite weichen möchte.
Tatsächlich stirbt Bianca kurz darauf in der Vorstellung von Lars. Jedoch ist ihr Tod nicht nur für diesen ein Verlust, sondern auch für den Rest der Gemeinde, die sich hingebungsvoll um die Puppe kümmerte. Auf Biancas Beerdigung wird deshalb aus zwei verschiedenen Gründen getrauert: Einerseits wegen des Todes einer lieb gewonnenen Person, andererseits wegen eines Symbols der Zuneigung und des Verständnisses, das eine ganze Stadt zusammenschweißte. Und obwohl Biancas Ableben schmerzhaft ist, ist es zugleich eine Chance für Lars, mit Margo, einem »real girl«, eine Beziehung aufzubauen.
Eine Lektion in Mitgefühl
»Lars and the Real Girl« ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle. In der einen Sekunde schmunzelt man* noch angesichts der absurden Situation und den daraus resultierenden witzigen Momenten, in der anderen heult man* wie ein Schlosshund, weil der ganze Streifen in seiner Thematik einfach so abgrundtief traurig ist. Ganz zu schweigen von Biancas Beerdigung. Doch meistens verspürt man* ein ganz seltsam wohlig-warmes Gefühl, welches durch das überraschend liebevolle Verhalten von Lars‘ Mitmenschen ausgelöst wird.
Das liegt vor allem am Anspruch der Drehbuchautorin Nancy Oliver. Sie stellte sich nämlich die Frage, wie es aussehen würde, wenn Menschen mit einer psychischen Krankheit nicht verlacht, ausgegrenzt oder regelrecht angefeindet werden, sondern wenn ihnen mit Liebe und viel Verständnis begegnet würde. Und genau das ist der Kern von »Lars and the Real Girl«: Mitgefühl.
Mitgefühl braucht Lars auch, denn er hat mit viel zu kämpfen. Nicht nur mit Schuldgefühlen, sondern zudem mit Anzeichen einer schizoiden Persönlichkeitsstörung (Personen mit dieser Diagnose sind nicht schizophren, sondern sind vor allem distanziert, pflegen wenige emotionale Beziehungen und haben oftmals eine ausgeprägte Fantasiewelt). Doch Lars‘ größtes Problem und Hindernis im Leben ist sein Unvermögen, sich von einem kindlichen Charakter zu einem Erwachsenen weiterzuentwickeln. Hier setzt der Film schlauerweise Bianca ein, um diesen Abnabelungsprozess so bildhaft wie möglich darzustellen.
Der Psychologe Donald Winnicott betrachtet die Kuscheltiere und Decken von Babys und Kleinkindern als sogenannte Übergangsobjekte. Ihre Aufgabe ist es, dem Kind Trost zu spenden, wenn es anfängt zu verstehen, dass Menschen – und damit auch die Mutter – eigene Subjekte sind. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es realisieren muss, dass die Mutter-Kind-Einheit nicht für immer bestehen wird. In dieser Entwicklungsphase ist der Teddy ein Ersatz für die zunehmende Abwesenheit der Mutter. Zudem ist dieses Objekt, welches oftmals vom Kind mit den Eigenschaften einer echten Person versehen wird, auch dessen erster eigener Besitz. Doch mit zunehmendem Alter wird das Übergangsobjekt als wortwörtliche »safety blanket« immer weniger und schließlich gar nicht mehr benötigt. Doch Lars konnte wegen des Todes seiner Mutter bei der Geburt diesen Prozess – das Loslassen von der gehäkelten Decke und damit metaphorisch von ihrer Person – nie abschließen. Mit Karins Schwangerschaft verschlimmerte sich Lars‘ Trennungsangst, weshalb er Bianca als eine greifbare Manifestation seiner Sehnsucht nach einer emotionalen Bindung zu sich holt und sie mit mütterlich-fürsorglichen Charakterzügen ausstattet. Doch Lars muss erwachsen werden und sich seinen Ängsten stellen. Indem er mit Bianca streitet, spielt er unterbewusst die allmähliche Trennung von Mutter und Kind, beziehungsweise die Subjektwerdung, nach. Das ist auch unbedingt notwendig, damit Lars von seinem infantilen Zustand zu dem Mindset eines Erwachsenen durchbrechen und endlich eine Beziehung mit einem autonomen Subjekt, in diesem Fall Margo, eingehen kann.
Im Grunde durchläuft unser Protagonist in »Lars and the Real Girl« eine normale, menschliche Entwicklung. Nur leider tut er das viel zu spät und mit einer leblosen Latexpuppe. Dennoch scheint es, als ob seine Mitmenschen das verstehen würden und Lars deshalb so behandeln, wie man* auch ein Kind behandeln würde, welches gerade diesen großen Schritt macht: Mit viel Liebe.
Titelbild: © agoodmovietowatch