Lautstark: Terra Incognita Electronica
In dieser Ausgabe der »Lautstark«-Kolumne soll ein altes Format neu aufgerollt werden, nämlich das »Starterpack«. Mehrere Künstler*innen werden auf einen Schlag vorgestellt, um Euch nicht nur mit (hoffentlich) neuer und aufregender Musik zu versorgen, sondern gleichzeitig die verschiedenen Facetten eines Genres zu beleuchten. Um was es heute geht? Ein Blick auf das metaphorische Beitragsbild verrät es schon: Elektronische Musik.
von Celina Ford
Wohin wandern die Gedanken, wenn der Begriff »elektronische Musik« fällt? Zu EDM? Zu Techno? Zu House? Wahrscheinlich, denn das sind schließlich auch die populärsten Subgenres dieses Umbrella Terms mit meterweiter Spannbreite. Doch wer nur an der Oberfläche kratzt, verpasst zwangsläufig die unzähligen exzentrischen, überwältigend harschen, innovativen und kopfzerbrechenden Acts, die sich im Underground tummeln und die mit tanzbarer Clubmusik nun wirklich nichts mehr zu tun haben. Diese Art von elektronischer Musik, die sich im Schatten des Mainstreams seit den frühen 1980er Jahren entwickelte, klingt nicht nur wie das obige Bild eines Strommasten in einer kargen Landschaft, sondern fühlt sich auch so an: Gefährlich, spannungsgeladen und übermächtig.
Die folgenden drei Künstler*innen des heutigen »Starterpacks« zeigen zwar nur einen kleinen Ausschnitt der Szene, lassen aber schon erahnen, was da noch so unter der Oberfläche brodelt. Dennoch ein wichtiger Hinweis, bevor es losgeht: Hier ist ein offenes Mindset das A und O. Im ersten Moment kann sich die Musik wie ein heftiger Stromschlag anfühlen, den man* lieber nicht noch ein zweites Mal erleben möchte. Doch je mehr Zeit man* mit dieser Art von Musik verbringt, desto verdaulicher wird sie und die Bewunderung für das Talent, welches es braucht, um diese Klanglandschaften zu kontrollieren, wächst stetig.
Prurient: Meister der »Power Electronics«
Wenn man* mit elektronischer Musik Tanzbarkeit, einen konstanten Beat und Lebensfreude verbindet, ist das Genre »Power Electronics« das absolute Gegenteil. »Power Electronics« ist wirklich nichts für schwache Nerven. Hier geben Statik, Feedback, hohe Frequenzen und Atonalität den Ton an. Es geht darum, Synthesizertexturen mit dem Ohr zu erkennen und diese zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Hat man* das geschafft und einen Anhaltspunkt im Irrgarten der tiefschwarzen musikalischen Landschaft gefunden, kommen noch die Vocals hinzu, die meist genauso schroff wie die Musik selbst sind und das Trommelfell einer Behandlung mit Schleifpapier unterziehen. Es stellt sich also die berechtigte Frage, warum um alles in der Welt sich jemand das antun sollte. Zugegeben, es liest sich schlimmer, als es in Wirklichkeit ist. Was »Power Electronics« für regelmäßige Hörer*innen jedoch so attraktiv macht, ist, dass das Genre von »normaler« Musik so weit entfernt ist wie nur irgendwie möglich. Daher wirkt die Musik wie ein Neutralisator, wenn man* mal wieder zu viele Bands gehört hat und schon regelrecht abgestumpft ist. Daneben kommt man* sich auch Dank der unglaublich dunklen Atmosphäre wie in einem Horrorfilm vor, in dem man* von messerscharfen Klängen durch ein Labyrinth gejagt wird.
Prurient, der schon seit den späten 1990er Jahren aktiv ist, hat sich zum modernen Gesicht eben jener »Power Electronics«-Szene hochgearbeitet. Das liegt daran, dass er nicht nur alle Merkmale erfüllt, die es für ein richtig schön deprimierendes »Power Electronics«-Album braucht, sondern dabei auch mehr oder minder gut zugänglich ist, da er teilweise auch weniger fordernde Elemente mit einbaut. Kurzum: Prurient ist die perfekte Einstiegsdroge in dieses extrem kalte und nihilistische Subgenre.
Machine Girl: Für die meme-affinen Hardcore-Kids
Elektronische Musik und traditionell härtere Genres wie Metal oder Punk wirken zwar auf den ersten Blick wie zwei entgegengesetzte Pole, doch sie können auch eine wunderbare Symbiose eingehen. Im Fall von Machine Girl kommt dabei »Digital Hardcore« heraus. Matt Stephenson alias Machine Girl (angelehnt an einen japanischen B-Horrorfilm) verbindet Metal, Hardcore Punk, Breakbeat, Drum and Bass, Hyperpop und Techno zu einem rasenden Monster. Der »Digital Hardcore« lebt zwar von der traditionellen Punk-Attitüde und Härte des Genres, hebt es aber durch Samples, Synthesizer und verzerrte Vocals auf ein neues Level. Neben dem musikalischen Grundgerüst und einem Live-Drummer (Sean Kelly) machen auch die Lyrics Machine Girl – abgesehen von der deutschen Gruppe Atari Teenage Riot – zu einem der interessantesten Vertreter des Genres. Die Band singschreit über Themen wie Gefühle der Machtlosigkeit, Unzufriedenheit mit der Politik und Geschlechteridentitäten. Matt, der*die non-binary ist, fasste Machine Girls Musik einmal nüchtern als »fucked-up electronic punk« zusammen.
Was Machine Girl aber beispielsweise von Künstler*innen wie Prurient unterscheidet, ist, dass es wirklich Spaß macht, die Musik zu hören und es nicht einer Selbstgeißelung gleicht. Machine Girl kann man* von der Herangehensweise als eine extremere Version der 100 gecs betrachten, denn auch hier ist ein gewisses Verständnis für Memes und eine Liebe zur alternativen Onlinekultur eine Voraussetzung. Ein Kommentar unter dem Musikvideo zu dem Song »Bitten Twice«, der das Wesen von Machine Girl 1:1 beschreibt, meint: »This happens when you are extremely online«. Kommt hin.
(Triggerwarnung: Flashing Lights)
Street Sects: Schmerzhafte Soundcollagen
Das Duo Street Sects, bestehend aus Shaun Ringsmuth und Leo Ashline, ist die Band, die viele meiner Lieblingsgenres miteinander vereint und dadurch etwas komplett Neues schafft. Zwar kann man* Street Sects wegen ihrer Noise, Punk, Hardcore und Industrial Elemente grob als »Industrial Electronics« einordnen, doch ein Großteil der Musik entsteht rein durch Samples. Ringsmuth bastelt nicht nur aus einem Sammelsurium verschiedener Sounds, sondern auch aus bereits existierender Musik regelrechte Collagen, was »Plunderphonics« genannt wird. Das Ergebnis: Die Musik beschwört eine düstere, verzerrte und unbequeme Atmosphäre herauf.
Diese Stimmung wird durch Ashlines Lyrics und verzweifelt-manischen Gesang nur verstärkt, denn er nutzt die Band vor allem als ein Outlet für Selbstkritik und die Verarbeitung seiner früheren Suchtprobleme. Neben diesen persönlichen Aspekten greift die EP-Serie »Gentrification« – wie der Name bereits vermuten lässt – das Thema Gentrifizierung auf, fokussiert sich jedoch nicht auf die politische Dimension des Problems, sondern darauf, wie sich dadurch der Alltag der Betroffenen verändert und auch, was es mit deren Psyche macht.
Fazit: »Elektronische Musik« beschreibt so viel mehr, als mit einem Mischgetränk (vorzugsweise Malibu Kirsch) in der Hand an einem Samstagabend im Club abzutanzen. Wobei das auch mal wieder ganz schön wäre.
Titelbild: © Ante Hamersmit via Unsplash