Wohnsinn-Kolumne: Danke, dass Du alles bist
von Lotte Nachtmann
Danke, dass Du da bist, wenn ich aufwache
Und meine schlaftrunk‘nen Füße auf Deinen eiskalten Fliesen grimmig erwachen
Wenn sich meine Härchen an den Armen aufstellen, weil Du über Nacht mal wieder zum Kühlschrank geworden bist
Wenn meine klammen Finger den Kaffee in die Maschine schaufeln und sich dann an der aufsteigenden Toasterluft wärmen
Danke, dass Du mir Hörsaal, Unibib und Mensa gleichzeitig bist
Dass Du alles gibst, um mich davon abzuhalten, doch noch eine Stunde produktiv zu sein
Dass Du mir die Wege über den verschneiten Campus ersparst
Dass Dein Zimmer nebenan mir den Pausenplausch in der PT-Cafete ersetzt
Dass Dein Internet genauso schlecht ist, wie an der Uni
Dass Du aber auch nach 22 Uhr noch offen hast und mich nicht schlafen lässt
Danke, dass Du mich jeden Tag vier Stockwerke laufen lässt,
Weil Du weißt, dass es mir fehlt, rastlos durch Treppenhäuser der Betonbauten zu hasten
Dass Du mich außer Atem kommen lässt, wenn mir die schweren Einkaufstüten fünf Minuten planken mit Pamela ersparen
Dass Du trotzdem meine Sprünge und Squats und Schnaufen und Schwitzen aushälst, wenn die restlichen zwanzig Minuten mir alles abverlangen
Dass Dein Surren und Pfeifen und die Stimmen jenseits Deiner dünnen Wände mich daran erinnern, dass Du eben doch kein Yoga-Studio bist
Dass Deine nass gewischten Böden mich dazu zwingen, Deine Türrahmen zu Klettergriffen zu machen und mich dann nur noch mehr vermissen lassen, Wände hochzusteigen
Danke, dass Du mir zur Sterneküche wirst,
Wenn ich wieder die neusten veganen Rezepte testen muss
Und wenn ich am nächsten Tag wieder alles mit viel Käse überbacke
Wenn ich Mehrgänge-Menus zaubere für nicht erlaubte Gäste
Wenn ich meinem Verlangen nachgebe, ständig Geburtstagskuchen zu backen für alle Geburtstage, die nicht gefeiert werden
Danke, dass Deine zugigen Fenster mich daran erinnern, dass es da noch ein Draußen gibt
Dass sie mir jeden Morgen und jeden Abend ein Dächermeer in purpur und feuerrot einrahmen, so wie es schon immer war
Dass die Fotos an Deinen Wänden mir jeden Tag zeigen, wo ich gerade nicht hinfahren und wen ich gerade nicht sehen darf
Dass ich Dich jede Woche liebevoll pflege und Du trotzdem abgewohnt und voller Staub und voller Flecken bleibst
Dass Du mich daran verzweifeln lässt, warum es so verdammt schwer ist, erwachsen zu sein
Danke, dass Du auf mich wartest, wenn ich nachts mal wieder woanders schlafe
Wenn ich Dir den Rücken kehre, weil’s woanders wärmer ist
Weil’s woanders schöner ist
Weil woanders einen Garten hat und keine Farbe von den Wänden blättert
Danke, dass Du auf mich wartest, wenn ich Dich verlasse,
Weil Du zu weit weg bist, um jeden Abend zu Dir zu fahren
Danke, dass Du mir in diesen schweren Zeiten alles bist,
Alles, was ich aus Dir mache
Alles, was ich da draußen grad nicht habe
Alles, was ich dennoch tun darf
Und alles, was mich noch ausmacht
Danke, dass Du meine ganze Welt bist!
Nächste Woche meldet sich dann Anna-Lena wieder ein bisschen weniger lyrisch aus ihrer WG.