Lautstark-Kolumne: Ein Hoffnungsschimmer aus dem Brexit-Land
Ja, sie leben immer noch und ja, sie veröffentlichen auch immer noch Musik. Zusammen sind die Rolling Stones mehr als 300 Jahre alt und »Scarlet«, ihre jüngst veröffentlichte Single, hat auch schon 46 Jahre auf dem Buckel. Auf ihr zu hören sind nicht nur die Stones als neben der Queen standhafteste Konstante Großbritanniens, sondern auch Led Zeppelin Lead-Gitarrist Jimmy Page. Eine Kombination, die hoffen lässt, dass das Vereinigte Königreich doch noch nicht verloren ist.
von Lotte Nachtmann
Ich gebe zu, dass ich mich zu diesem Artikel durch eine Besprechung von Willi Winkler in der Süddeutschen Zeitung habe inspirieren lassen. Aber diese empfand ich als so zutreffend, dass ich die Eindrücke des SZ-Autoren und natürlich meine eigenen zur jüngsten Veröffentlichung der britischen Urgesteine der Rockmusik, den Rolling Stones, mit Euch teilen musste. Die Single »Scarlet« wurde am Mittwoch zunächst auf den bekannten Streaming-Diensten und YouTube veröffentlicht und ist eine Art Vorgeschmack auf ein Reissue der Platte »Goats Head Soup« aus den 1970ern, das Anfang September erscheinen soll. Die Neuauflage des Albums soll übrigens noch zwei weitere bisher nicht veröffentlichte Songs enthalten, auf die wir schon gespannt sein dürfen. »Scarlet« gibt jedenfalls Anlass dazu.
Kampf der Gitarren-Götter
Die Single wurde vor fast einem halben Jahrzehnt, genau genommen vor 46 Jahren, aufgenommen. »Goats Head Soup«, in dessen Rahmen die Single aufgenommen, aber nie veröffentlicht wurde, zerriss die Musikpresse mehr oder weniger höflich. Ein Eindruck, den ich nicht unbedingt teile, der aber nicht verwunderlich scheint, fiel das Album in eine Zeit, in der es bei den Stones erstmals so richtig und wahrlich nicht zum letzten Mal kriselte. Ein Jahr später, 1974, verließ Gitarrist Mick Taylor die Band und man stand ohne Begleitung für Keith Richards dar, der sich schließlich bei seinen ausufernden Riffs in Zuständen völliger Zudröhnung gerne mal auf der Bühne verlor. Taylors Nachfolge trat Ron Wood an, der bis heute das Quartett immer weiter verfallender Fossilien vervollständigt. Bei »Goats Head Soup« war er allerdings noch nicht dabei. Doch auf »Scarlet« ist neben Keith Richards charakteristischem Gitarren-Spiel trotzdem noch ein anderer Stil zu hören, der Rockfans aus den 1970ern nur allzu bekannt vorkommen sollte. Die Stones holten sich ja immer wieder andere musikalische Größen ins Boot, um sie, wie Willi Winkler schreibt, »in aller Freundschaft auszubeuten«. Von Ausbeuten würde ich im Falle von »Scarlet« jedoch nicht reden. Denn Led Zeppelin Lead-Gitarrist Jimmy Page weiß sich musikalisch gegen Ausbeutung zu wehren und wird zum kongenialen Gegenpart zu Keith Richards. Der muss sich richtig gegen ihn anspielen, sodass eine Art Kampf zwischen den beiden Gitarren-Göttern (gefühlt auch genauso alt) entsteht, der in »Scarlet« die Tension zurückbringt, die den Kritiker*innen von »Goats Head Soup« damals gefehlt hatte.
Man könnte den Stones jetzt vorwerfen, dass sie mit einem fast 50 Jahre alten Song und der Wiederauflage eines ebenso betagten Albums auch nichts neues aus der Mottenkiste des britischen Rocks ziehen. Aber das stimmt so nicht: Erst im April dieses Jahres veröffentlichten sie »Living in a Ghost Town«, das zwar schon letztes Jahr geschrieben wurde, aber kaum besser zu den kurz nach der Aufnahme in Kraft tretenden Ausgangsbeschränkungen weltweit passt. Für ihr letztes Album, »Blue & Lonesome« (zugegebenermaßen ein Coveralbum) schleppten sich die damals schon alle um die 70 Jahre alten Herren 2016 ins Studio. Die letzte Tour fand vor drei Jahren statt. Zur Ruhe setzen oder ausruhen tut sich also keiner der vier, auch wenn man sich ernsthaft fragen muss, ob sie die letzten 58 Jahre trotz oder wegen Kokain überlebt haben. Was aber noch gegen Vorwürfe der fehlenden Innovation spricht, ist, dass weder »Scarlet« noch die Band selbst innovativ sein müssen. Bei den Rolling Stones erwartet doch schon seit Jahren keiner mehr, dass sie »sich neu erfinden«, oder »mal was anderes rausbringen«. Das ist nicht die Logik von Rock-Bands und ihre Fans erwarten auch nichts anderes. Wer Rolling Stones hört, hat automatisch »You Can’t Always Get What You Want«, »Satisfaction« oder »Paint It Black« im Ohr und die sind nun einmal mehrere Jahrzehnte alt. Wer heute auf ein Stones-Konzert geht, der weiß was er bekommt: die alten Klassiker, einen flummiartigen Mick Jagger im Glitzerkostüm, einen einschlafenden Keith Richards auf Koks und einen tiefenzufriedenen Charlie Watts an den Drumms. Und das ist verdammt noch einmal auch das, was man da sehen und hören will. Das und nichts anderes sind und waren die Rolling Stones immer. Und deshalb freut man sich, auch auf »Scarlet« denselben rotzigen und, wie es Willi Winkler ausdrückt, dezent „frauenfeindlichen“ Macho Mick Jagger zu hören. Die gitarristische Rivalität zwischen Richards und Page stört dabei insofern nicht, als dass Led Zeppelin zu exakt demselben Schlag Rockband zu zählen ist, der sich, wenn sie sich nicht 1980 aufgelöst hätten, bis heute nicht verändert hätte.
Solange die Stones spielen, ist alles gut
Für mich steht das ganze nicht nur für ein Genre-spezifisches Phänomen, das man mögen muss. Nein, es steht für eine Art Garantie in einer Welt, in der man nicht weiß, welches Land am nächsten Morgen mal wieder aus der EU aussteigen will oder welche Regierung die wütende Orange im Weißen Haus jetzt beleidigt hat. Wer Rolling Stones kauft, kriegt genau die Rolling Stones, die in den 1960ern Ausdruck einer Nation waren, die sich nicht nur dank ihrer Dichte an fantastischen Musiker*innen an der Spitze der Weltgemeinschaft sah. Was heute vom strahlenden Großbritannien aus der Ära der Stones, Led Zeppelin, The Beatles, Queen, David Bowie und Konsorten übrig bleibt, ist neben so manchen musikalischen Verirrungen vor allem auf politischer Ebene einfach nur traurig. Die Veröffentlichung von »Scarlet« erinnert nun ein weniger nostalgisch angehaucht an alte Zeiten zurück. Aber viel wichtiger: Es zeigt, dass die Stones noch leben, spielen und nicht vorhaben, so schnell klein bei zu geben. So lange Mick Jagger über die Bühne hüpfen kann, Keith Richards im Verlauf eines Konzerts nur ein- bis zweimal einschläft, Charlie Watts die Drumsticks und Ron Wood das Plektrum halten können, solange ist Großbritannien noch nicht ganz verloren. Und da DIE Konstante der britischen Rockmusik scheinbar beschlossen hat, unsterblich zu werden, müssen wir auch noch nicht alle Hoffnung für das Brexit-geplagte Vereinigte Königreich verlieren.
Beitragsbild: Unsplash ©Vale Arellano