Kreatives aus der Schreibwerkstatt
Wer schon ein Blick in die neue, digitale Ausgabe der Lautschrift geworfen hat, dem ist sicher aufgefallen, dass wir auch dieses Semester wieder die Schreibwerkstatt der Uni Regensburg mit dabei haben. Da wir im Heft leider nur Platz für einen dieser kreativen und sprachgewaltigen Texte hatten, wollen wir hier noch vier weiteren AutorInnen eine Plattform für ihre Werke geben.
Bilderfluten
von Moritz Nicklas
Draußen laufen sie in Fetzen, liefern sich ein Wettrennen um das blanke Leben, klettern an Zäunen hinauf und schwimmen im Dreck. Es ist eine Schande für alle. Aus der Ferne, im Fernseher, sieht man alles. Man lehnt sich zurück, während draußen die Luft zerreißt. Plastikmüllstrudel und Ozonlöcher, Seenotretter und Militär. Das Kindergeschrei um die Ecke. Der Trubel in den Innenräumen. Er erinnert an Maden, die das, was noch übrig ist, in sich hinein würgen. Es ist Frühjahr und in den Wohnungen eine drückende Hitze. Dieses Jahr laufen die Uhren rückwärts. Wir gehen zurück in den Winter, in die Starre. Nichts entwickelt sich und die Räder bleiben stehen, die Straßen leer. Der Fluss drückt gegen die Dämme, will das Land zurückerobern. Die Gewalt des Menschen hat versagt. Die Natur hat ihren eigenen Rhythmus wiedergefunden. Es weht von den Dächern ein eiskalter Wind.
Leichen, hört man, stapeln sich in Kühlhäusern. Eine große Bewegung hinaus aus der Stadt. Menschen ziehen wie Geister durch die Täler. Ein Segen ist das Netz aus aufgelösten Zeichen. Signale strömen unter uns und über uns in andere Häuser. Wärme entsteht. Die Puppen tanzen vor ihren Rednerpulten und überschwemmen das Land mit Hoffnung. Überleben ist ein Spiel mit dem Tod und viele haben bereits verloren. Nicht hier, anderswo auf der Welt ist die Not am größten. Wie leicht fällt es, sich zu verkriechen in seinen sicheren Bau.
Das Fernsehen ein Hintergrundrauschen der Not. Nachrichten schießen auf die Köpfe der Menschen ein. Durch Gewohnheit sind sie taub geworden. Anfangs schien es, als ob ein Ruck durch sie ginge. Aber die Wahrheit ist träge. Es hat sich nichts verändert. Die Wirklichkeit ist erbarmungslos. Während sich alles ändert, bleibt eines gleich. Es ist ein ewiger Kampf ums Überleben, der dort draußen stattfindet, nicht hier drinnen. Hier drinnen brennt die Lampe und lärmt das Radio, blitzt die Technik um Aufmerksamkeit. Die ewigen Geschichten laufen auf den Bildschirmen von unten nach oben. Krieg in den Sternen, während hier unten alles in Angst erstarrt.
Man nimmt Abstand von den Schwächsten. Sie liegen dort draußen, alleine, und sterben. Jenseits des Meeres liegt ein Land, das Elend heißt, aber es ist noch unentdeckt. Es gibt nur uns und unsere Sorgen, unsere Nöte. Man darf nicht wegschauen von den Ängsten der Menschen und es zieht in die Wohnungen und es fehlt das Geld, sagen sie. Und was sagen wir? Wir sind einzeln, vereinzelt, einsam. Es gibt den großen Bienenstock jetzt in digital. Wer kritisiert, wird in Honig ertränkt.
Schaut nach draußen in die Welt. Seht ihr das nicht? Ihr seid nicht allein und werdet es auch nie sein. Jede Handlung hat Bedeutung, jedes Leben zählt! Es lässt sie kalt.
Aber es ist doch alles so aussichtslos, so anstrengend. Wer kann das aushalten, wer mag das noch ertragen. Der Mensch wendet sich ab von sich selbst und verkriecht sich in seine Höhle. Es ist das ewige Spiel. Jeder verliert, der nicht wegsieht. Psychische Stabilität, Nervenbahnen, Hypochondrie, das ist der Geist der Zeit. Die Bänder reißen und die Dämme brechen, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und alles ist verloren.
So denkt der Mensch, so wartet er ab. Macht alle den Bildschirm aus und schlaft ein wenig. Vielleicht ist morgen alles wieder wie zuvor.
Erst unerkannt, dann schwer verbannt
von Tatjana Kühnast
Ist so klein, verbreitet sich ungemein. Kleiner als der kleinste Käfer, als eine klitzekleine Asbestfaser, als ein mikroskopisches Bakterium – das nanoskalige SARS-CoV-2. Wie kann etwas so Kleines etwas so Großes nach sich ziehen? Doch heißt es nicht gleichzeitig auch, dass der Zwerg auf den Schultern des Riesen weiter sehen kann als dieser selbst? Tiara blickte auf das Ergebnis der Google-Bilder-Suche. Sie betrachtete das schwarz-weiße Bild eines Elektronenmikroskops mit vier asymmetrischen Kreisen, auf denen Bäume zu wachsen schienen, Spikes. Aus der Tagesschau kannte sie ein anderes Modell: Eine hellbeige Kugel, gekrönt mit roten Spikes. Die Menschen gaben dem Virus Farbe und einen Namen: Corona. Fast so als wäre es ein Lebewesen. Aber nur fast.
Tiara klappte ihren Laptop zu und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Der Laptop und eine Tasse Tee standen vor ihr auf dem Tisch. Eine ungewöhnliche Stille hatte sich ausgebreitet, beinahe glaubte sie zu träumen. Gegenüber, wo ihre Nachbarn für gewöhnlich jeden Abend bei einem Bier beisammen saßen, sah man nur noch hochgeklappte Bierbänke. Als wäre in Eile aufgeräumt worden, ragte die Tischdecke noch hinter den Bänken hervor und flatterte wild im Wind. Tiara erinnerte sich daran, wie ihr Frau Beuer stolz ihr Werk präsentierte, bevor sie es den Nachbarn schenkte. »Damit sie mich nie vergessen«, erzählte sie und bemerkte mit spitzbübischem Blick, dass Tiara ihnen bloß nicht verraten solle, dass sie das Vogelmotiv aus einem alten Buch abgekupfert habe. Sie habe die Wahl zwischen einer Fledermaus und einem Phönix gehabt. Na ja, da habe sie sich doch lieber für Letzteres entschieden.
Tiara dachte an die alte Dame, die nun allein in ihrem großen Haus sitzen musste. Und sie fragte sich erst jetzt, ob die Nachbarn die winzige Phönixstickerei als solche erkannt hatten. Sie schloss ihre Augen. Vor ihrem Inneren schnitten die majestätischen Schwingen des plötzlich riesigen, federgekrönten Phönix die Luft wie ein zweischneidiges Schwert. Als brächten die Flügel des einen Freud, des anderen Leid hervor. Scharlachroter Flügel, halb versunken in schwarzer Asche, ungewiss des Auferstehens, bangend vor zukünftiger Zeit. »Wie muss es nur Opfern häuslicher Gewalt, Menschen mit Existenznöten oder einsamen Menschen wie Frau Beuer gehen?«, fragte sich Tiara. Als an Silvester die Funken der Wunderkerzen golden sprühten, spürte sie, dass 2020 ein ganz besonderes Jahr werden würde. Nur hatte sie ursprünglich gedacht, dass es ihre Maihochzeit einzigartig machen würde. Trugschluss, denn ihr Verlobter befand sich viele Kilometer entfernt und kämpfte um Menschenleben. In manchen Momenten schien ihr die Welt in Asche zu versinken.
Doch golden glänzte der rechte Flügel, bereit weiterzugehen. Tiara erkannte einen blassen Hoffnungsschimmer am Horizont. Denn konnte ein Umsturz nicht auch Positives mit sich bringen? Chancen für mehr Zeit, Bewusstseinswandel oder die Natur? Tiara erlebte selbst, wie das Virus sich längst in jeglicher Hinsicht einen festen Platz erschlichen hatte. Wichtig war, dass Menschen nicht – gleich Marionetten – im tosenden Strudel der Gesellschaft von Strömen mitgerissen werden würden. Damit irgendwann der Phönix des Neuanfangs pausbackenrot aus seiner Asche auferstehen könne. Solch Ding hat seine Schwingen, seine Kraft und seine List. Er hatte etwas mit dem Virus gemeinsam.
Der Vagabund und das Wohnzimmer
von Charlotte Palatzky
Kameraden, es ist einsam geworden um mich.
Fühlt sich an, als würde sich was Hartes, Kantiges durch meinen Buckel graben, wenn ich das so sage, aber ist so. Es ist stockfad. Es reibt, so fad ist das. Eure vermaledeiten Türen sind zu.
So freundlich hat’s dabei eigentlich angefangen, vor sieben Monaten, mit dem Türschließ. Dem Lockdown. Die anderen, die. Haben längst schon geschrien, als ihr die Türen gerade erst geschlossen habt. »Wo sollen wir jetzt nur Geld für Essen herbekommen?« Später dann die wieder anderen »Wie sollen wir jetzt noch an Stoff kommen?« Und dann noch die verzwackte Polenterei »Geht nach Hause« – »Gerne Schatz, gibst du mir deine Schlüssel?«
Versteht mich nicht falschrum Kameraden, ich will die jetzt nicht kleinreden, die Sorgen von den Lumpens. Ist echt nichts zu lachen, da, wo die hingekommen sind. Nur noch Straßenmobiliar sind die. Haben keinen Platz mehr bekommen auf der Zaster-Treppe von den ganzen Palast-Fuzzis und Teleprompter-Madams, die sich die oberen Stufen geschnappt haben. Und klar, kommt dann so ’ne Krise, dann denkt keiner an die Lumpens da unten. Da muss man schon Verständnis für haben, wenn die dann anfangen zu meckern. Die haben’s halt ganz anders gesehen als ich. Also genörgelt hab ich nicht. Stimmungsdiebe, alte. Hat mich damals wirklich kirschenwild gemacht, der ihr »Me me«.
Ich nämlich, Kameraden, hab da irgendwo die Chance meiner alten Tage erkannt, noch was zu reißen. Mit dem ›was reißen‹ mein ich eher was stoßen, also was bewegen. Also folgendes, ich erzähl’s euch, ihr guckt ja doch nicht aus dem Fenster.
Also am Anfang, da hab ich’s als großes Glück begriffen, dass die elenden Pforten der Büro-Sitzer endlich mal die Quietsche halten. Hat meinen ganzen Leib bewegt, also wörtlich – vom Café-Pilz hin an den Haidplatz, keinen gestört, vor allem mich nicht. Endlich keine Seit-Starrer mehr, Motto »Wenn ich ihn angeschaut habe, muss ich ihm mein Geld geben?«. Überall die Plakate aus den Fenstern ›Leave no one behind‹. Hab die dann beruhigt, die Demokrats da oben und auf das Pflaster mit meinem Urin geantwortet ›Leave me b‹. Für den Rest hat’s nicht gereicht, aber wird’s auch so erklärt haben. Und dann hab ich’s mir ordentlich nett gemacht. Also nicht gleich, erstmal hab ich noch den Unproblematischen gemacht, damit die Polenterei keine Schwierigkeiten macht. Aber die sind ja dann nach ein paar Monaten auch lieber hinter die Tür gegangen, gleiches Recht für alle und sowas.
Da war’s für mich soweit, ich konnte mich schick einrichten. Hab gesammelt, was ich konnte, war ganz die Fleißebiene. Höchstens mittags hab ich mal einen Stopp gemacht, um dann und wann in den alten Fürstenpark zu hüpfen und ein bisschen zu flanieren. Das hat mir nichts gebracht, klar, aber gut hat’s getan, weil’s komisch ist. Und manchmal braucht man zwischen so harter Plackerei einen kleinen Lach, kennt ihr doch. Am Ende hat’s dann gestanden, mein Werk. Café-Stuhl auf Aschenbecher, Papiertonne auf Broschüren-Ständer: der Haidplatz, mein Wohnzimmer. Feinste Möbel, in höchster Größe, sogar bemalt, mit allem was zu finden war. Hab da gesessen und gelegen und mich gekringelt, gewartet, dass die Burg-Lords und Technik-Ladys mal aus ihren Fenstern linsen und sagen: »Och ah! Was macht denn so einer da?«
Aber nichts. Nichts kam. Und jetzt, da ist mir ehrlich flau im Magen, und das nicht nur mit dem Hunger. Kein Seitenblick mehr, gar nichts. Höchstens mal eine alte Schepper-Dose, die sich ihren Weg an mir vorbeibahnt. Sonst Stille. Mir fehlen die Kleinen, die einem in die Augen sehen und du weißt, du bist da. Kameraden, ich muss ehrlich sein, ein schickes Haus ohne Bewunderer, das ist einsam.
Weltwechsel in Momentaufnahmen
von Annika Spychalski
Was ist das für eine schöne neue Welt: Eine Welt, in der Menschen, deren Technik seit Jahren darauf abzielt, nicht mehr miteinander interagieren zu müssen, plötzlich nichts mehr wollen als den Kontakt zueinander. Eine Welt, in der Menschen, die am Tag mehrere unbedingt notwendige Inlandsflüge unternommen haben, zuhause bei ihren Familien sind und Videokonferenzen schalten. Eine Welt, in der die Menschen zu Helden werden, die bisher zu wenig Achtung dafür gefunden haben, dass sie kranke Menschen pflegen oder Regale auffüllen. Tag für Tag für Nacht und Tag.
In einer Zeit, in der Berührungen Gefahren bergen – in der man den Instinkt unterdrücken muss, seine Freunde zur Begrüßung in den Arm zu nehmen und dem neuen Arbeitskollegen die Hand zu geben – in einer Zeit, in der selbst die tröstendste Berührung einer augenscheinlich gesunden Person Angst auslöst, strecken Menschen die helfenden Hände nacheinander aus. Gemeinsam wollen sie dem Spuk ein Ende setzen und einander vor dem Ruin bewahren. Sie wollen, dass das menschliche Gehirn und alles, was daraus hervorgegangen ist, dem unheimlichen Machtspiel der Natur Herr werden kann. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Krone der Schöpfung von einem ebenfalls gekrönten Nanopartikel im 14-tägigen Prozess außer Gefecht gesetzt wird.
In den vergangenen Wochen wurde ein perfekt-perfides Gleichgewicht der Kräfte geschaffen. Wo Menschen Abstand zueinander halten müssen, um einander vor den tödlichen Tränen der Natur zu schützen, lernen sie, dass sie einander brauchen. Regierungen schaffen es auf einmal, ohne großes Herumgerede und Zänkereien Entscheidungen zu treffen, sehen in Einschränkungen den einzigen Ausweg. Ein Ausweg, der für die Menschen, die Angst um ihre Rechte haben, eine Einbahnstraße zu sein scheint. In ihren Augen blitzt beim Anblick von Warteschlangen vor Lebensmittelgeschäften die dunkle Erinnerung an längst vergangen geglaubte Zeiten auf. Doch die Natur bedankt sich, denn da schwimmen plötzlich Delfine vor den Küsten Spaniens. Währenddessen finden die globalisierungsaffinen Wirtschaftswissenschaftler keine Ruhe. Sie bekommen Schweißausbrüche beim Anblick der geschlossenen Grenzen und rauchlosen Fabrikschornsteine.
Es ist ein Perpetuum mobile der Freiheiten und Einschränkungen und das Krankenhauspersonal macht Abstriche, und so auch jeder andere, der in diesen Tagen auf der Erde wandelt.
Die kunterbunten Mundschutze haben Farbe in unser Alltagsgrau gebracht. Wie irritierend es doch ist, wenn man die Mimik seines anderthalb Meter entfernten Gegenübers nicht deuten kann. Aber wie spannend, auf die Intonation des Gesagten zu achten, den Worten Gewicht zu verleihen. Mag sein, dass die bösen Zungen Recht haben, die zynisch zischen, dass wir uns an den bunten Stoffen nur festhalten wie an einem sicheren Anker. Aber mit den Ausgangsbeschränkungen bleibt uns ohnehin keine andere Zuflucht als der Heimathafen und immerhin haben die Mundschutze dafür gesorgt, dass wir uns nach viel zu langer Zeit endlich wieder in die Augen sehen.
Am Rande des Wahnsinns sitzt ein kleines Virus, nicht groß, nur etwa 100 Nanometer im Durchmesser. Mit einer seltsamen Krone auf dem Kopf balanciert es eine strategische Weltkarte im Schoß. Es schubst ohne Sinn und Verstand, ohne Rücksicht auf Verluste, mit gezielten Schlägen in die Organe, Menschen über den Rand. Es dirigiert mit einer heimtückischen Systematik, die sich bisher nur ihm selbst erklärt, die Fallzahlen der Länder in die Höhe und führt die Welt, wie wir sie kannten, ad absurdum.
Wer jetzt Interesse hat, bei der Schreibwerkstatt mitzuwirken, findet auf der Website des Instituts für Germanistik mehr Informationen.