Lautstark: Dir En Grey – Die Vertonung menschlicher Abgründe
Während der Pubertät kann es Teenager in einige klischeebehaftete Richtungen und Subkulturen verschlagen, die man hauptsächlich aus irgendwelchen Highschool-Filmen kennt. Manche SchülerInnen sind von vornherein schon beliebt, manche sind typische Nerds, dann gibt es noch japanaffine Emos, zu denen ich mich damals selbst gezählt habe (peinlich, oder?). Wenn man sich mit Animes und Mangas beschäftigt, stößt man irgendwann auch zwangsweise auf japanische Musik. In meinem Fall war es der J-Rock, der mich von anfang an faszinierte, etwas verstörte, von dem ich mich bis heute jedoch gerne berieseln lasse. Bands wie The Gazette, Girugamesh, X Japan oder Buck-Tick klangen wie keine andere Musikgruppe, die ich bis dato gehört hatte. Doch Dir En Grey, die ich in meiner heutigen Lautstark-Kolumne vorstellen werde, stechen aus diesem für westliche Ohren ungewöhnlichen Sound noch ein Stück weit mehr heraus.
von Elias Schäfer
Dir En Grey sind schwer in Worte zu fassen. Seit über 20 Jahren wechseln sie ständig ihren Musikstil, ihre Ästhetik, touren dabei unaufhörlich um die ganze Welt und veröffentlichen regelmäßig neue Alben, Live DVDs und Musikvideos. Der Sound rangiert von Upbeat-Rock über Nu-Metal bis hin zu Experimental Extreme Metal mit elektronischen oder traditionellen japanischen Einflüssen. Die metaphernreichen, düsteren, poetischen Texte handeln von Selbstverletzung, Abtreibung, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch oder Liebeskummer; eine positive Weltanschauung wird man bei dieser Band kaum finden. Dir En Grey spielen eine Art von Musik, die die tiefsten Abgründe der Menschheit aufzeigt.
Visual Kei und die Anfänge der Band
Die fünfköpfige Band aus Osaka wurde im Jahre 1997 vom Sänger Kyo, den Gitarristen Kaoru und Die (ersterer stellt aufgrund der medialen Schüchternheit Kyos den Bandleader dar), dem Schlagzeuger Shinya und dem Bassisten Toshiya gegründet. Die ersten vier Genannten spielten davor in einer Band namens La:Sadie’s und trafen genau dann zusammen, als eine Subkultur namens Visual Kei auf ihrem Zenit war. Visual Kei, kurz VK, übersetzt »Visual Style«, entstammt einer Mischung aus dem Glam Rock, dem New Romanticism, dem Gothic und dem Punk, garniert mit einer Prise des japanischen Kabuki-Theaters, die ab den 1980er Jahren immer populärer wurde. Die Vorreiter dieser Bewegung, die bis heute existiert und sich durch auffällige Frisuren, unübliches Make-Up und androgyne, exotische Kleidung auszeichnet, stellen X Japan oder Malice Mizer dar, die die ursprünglich konservative japanische Gesellschaft durch eben diesen Stil ganz schön aufwirbelten und tausende Bands und deren Fans inspirierten. Die Musik, die Bands des Visual Kei spielen, ist hierbei sehr variabel und nicht direkt zu charakterisieren, allerdings versuchen bis heute viele Bands, den Stil der Gruppen der späten 1990er und 2000er Jahren zu kopieren, womit zwar eine große Szene entsteht, aus der aber nicht wirklich viele Bands herausstechen können.
Eine der Ausnahmen stellt Dir En Grey dar, die die ersten drei Jahre im damals sehr populären Visual Kei Genre tätig waren, sich jedoch schnell Sounds außerhalb dieser Bubble zuwandten. Zu ihrer Gründungszeit war es eben einfach, durch solch ein Image aufzufallen und berühmt zu werden, aber die Gruppe rund um Sänger Kyo hatte andere, größere Pläne, und etablierte schnell einen eigenen Sound, der sie auch außerhalb der japanischen Grenzen bekannt machen sollte. Der Bandname selbst ist eine Mischung aus deutsch, französisch und englisch, basiert aber auf einem Übersetzungsirrtum: Die Mitglieder dachten, dass das deutsche »dir« »Silbermünze« bedeuten würde, was die angedachte Übersetzung des Bandnamens »graue Silbermünze« erklären würde. Mittlerweile sagt die Band aber, dass der Name vor langer Zeit mal eine Bedeutung hatte, nun aber nur noch ihre Ästhetik widerspiegeln würde, die in einer musikalischen Grauzone ohne wirkliche Festlegung operiert.
Die Alben »Missa« (1997) und »Gauze« (1999) waren noch im konventionelleren J-Rock zu verorten, aber ab »Macabre« (2000) und »Kisou« (»dämonisches Begräbnis«, 2002 – was durch ein wunderschönes, in Perlmutt getauchtes Artwork und unter anderem meinen Lieblingssong von ihnen, »24 Cylinders«, besticht) spielten Dir En Grey vermehrt härtere, experimentelle Lieder, wodurch sie nicht nur innerhalb Japans immer bekannter wurden, sondern auch erstmals Touren in Ländern wie China oder Südkorea durchführten. Emotionale Balladen, allen voran »Mushi« (Insekt) vom »Kisou« Album, bildeten jedoch immer noch das Fundament ihrer Popularität durch höchst introspektive Lyrics wie »Mein Herz ist verschlossen / jeden Augenblick wird es auseinanderfallen / um meine Tränen zu unterdrücken, schreie ich jeden Tag / dieses Herz [hinterließ mir] die Stärke, zu vertrauen, dass es einen Sinn gibt / es war mein eigenes Herz, das mich tötete« und ausgeklügelte, melodische Instrumental-Parts.
Stiländerung und erste Erfolge im Westen
Den ersten richtigen Durchbruch stellte jedoch das Album »Vulgar« (2003) dar, das harte Riffs, verrückten Gesang und auch stark melodische Parts beinhaltete. Das Visual Kei Image wurde mittlerweile komplett abgelegt, da die Band nicht nur mit ihrer Mode, sondern vor allem mit ihrer Musik auffallen wollte, und sich nun etwas schlichter und dunkler kleidete. Nicht nur die Instrumentals der Band wurden immer vielschichtiger, auch der Gesang fiel durch krasse Distinktivität auf. An sich ist Kyos Stimme etwas, was viele Kritiker als etwas in einem Jahrzehnt einmalig Vorkommendes bezeichneten, da sie fast fünf Oktaven umspannt und als eine der variabelsten Stimmen der Musikwelt gilt. Egal ob live oder im Studio, ob dämonische Growls oder hohe Shrieks, egal ob erhabener, emotionaler Mid-Range Gesang oder Gänsehaut-erzeugendes Falsetto: Der gerade mal 1,60 Meter große Kyo kann selbst im derzeitigen Alter von 44 Jahren alles, trotz mehrerer Krankenhausaufenthalte aufgrund von Stimmbänder- oder Hörproblemen. Außerdem schreibt er ausschließlich alle Texte der Band, die oft von der Zweideutigkeit der (alt)japanischen Sprache Gebrauch machen, aber auch deutsche (»Schwein no Isu«), russische (»Deity«, »Vinushka«), französische (»Raison d’être«) und viele englische Sprachpartikel beinhalten.
Der wohl bekannteste Song des »Vulgar« Albums, »Obscure«, der Dir En Grey zusammen mit dem künstlerisch anspruchsvollen, aber stark provozierenden, blutgetränkten und ekelerregenden Musikvideo auf die internationale Bildfläche verfrachtete, beinhaltet Szenen des Erbrechens, Nacktheit, Insekten, Abtreibung, verzerrtes traditionelles japanisches Theater, Menschen mit Amputationen … fast fünf Minuten voller Horror und Chaos, die dementsprechend bei Veröffentlichung zensiert wurden. Dies war jedoch nur der Anfang der Brutalität, die ab diesem Projekt die Musik Dir En Greys einnehmen sollte: Die darauffolgenden Alben, »Withering To Death« (2005) und »The Marrow of a Bone« (2007) widmeten sich immer mehr dem extremeren Nu-Metal, zwar ohne die melodischen Wurzeln der Band zu vergessen, aber mit genügend Veränderungen, um von einer 180° Wende verglichen mit den ersten Alben sprechen zu können.
Uroboros und die Inkorporation von progressivem Death Metal
Mittlerweile war von den Visual Kei Anfängen gar nichts mehr zu merken, denn Dir En Grey haben ihren distinktiven Sound gefunden, der wie keine andere Band klang, sondern sich in seinen eigenen Sphären bewegte. Die immer sperriger werdenden Songs auf »Uroboros« (2008) fingen an, teilweise an die zehn Minuten lang zu werden, mehr Tempowechsel und härtere Sounds zu beinhalten, während Kyo nunmehr komplett unmenschlich in seinen gutturalen Vocalpassagen klang, nur um im nächsten Moment zu engelsgleichem, opernhaften Gesang zu wechseln. Bis hierhin setzten Dir En Grey und vor allem Kyo auf Shock Value, indem der Sänger sich bei Livekonzerten, wobei mit die erste Kostprobe für das deutsche Publikum beim Wacken Festival 2007 stattfand, selbst verletzte: Mit Fischhaken schlitzte er sich den Mund auf, mit Rasierklingen die Brust. In der damaligen Zeit war dies keine Seltenheit für die Band, sondern wiederholte sich bei fast jedem ihrer Konzerte. Kaum eine andere Gruppe ging solch eine Distanz ein , um die Emotionalität ihrer Songs so real wie möglich darzustellen – doch natürlich kann niemand solch eine körperliche Bürde für längere Zeit tragen. Kyo ersetzte die blutigen, rohen Performances bald mit künstlerischen Kostümen, Fake-Blut und einem verstärkten Fokus auf die immer weiter ausufernden Kompositionen der Band.
Im Vergleich zur Mitte der 2000er Jahre, in denen Dir En Greys Musik vor allem von Inspirationen seitens Korns Family Values Tour geprägt war, markierte »Uroboros« abermals eine Wende in der Musik Dir En Greys, so wie »Vulgar« fünf Jahre zuvor. Ab »Dum Spiro Spero« (2011, lat. für »Während ich atme, hoffe ich«) lösten sich Dir En Grey endgültig von ihrem alten Sound und setzten auf verschrobenen, progressiven Death Metal mit melodischen und groovy Einlagen – gleichzeitig erinnerten einige Songs an die Struktur klassischer Musik und die Band spielte Konzerte mit mehreren tausend Menschen auf der ganzen Welt, unter anderem auch einige Male in Deutschland, obwohl ihre Musik objektiv gesehen immer unzugänglicher wurde. Da ihre Klassiker wie »Obscure«, »The Final« oder »Kasumi« nicht mehr wirklich zu ihrem neuen Stil passten, nahmen Dir En Grey für die 2013 erschienene LP »The Unraveling« diese neu auf, um sie ohne Probleme in ihre modernen Live Performances übertragen zu können.
Wachsende Popularität bis heute
Im Gegensatz zu vielen westlichen Bands vergaßen Dir En Grey trotz des drastischen Soundwechsels nie ihre Wurzeln und so folgten selbst nach neuen Alben Touren, in denen ihre alten EPs zelebriert und komplett durchgespielt wurden. Trotz seines fortschreitenden Alters springt Kyo immer noch wie ein Duracell-Häschen über die Bühne, schreit und singt sich die Kehle aus und erfindet zu jedem Auftritt ein neues Outfit, egal ob als Halloween-Skelett oder geisterhafte Nonne, Fanclubs auf der ganzen Welt sorgen für ausverkaufte Konzerte in sämtlichen Kontinenten und Ländern, in denen sie auftreten. Bei den letzten beiden Alben, die sie veröffentlichten, »Arche« (2014) und »The Insulated World« (2018) wirken Dir En Grey mehr denn je so, als hätten sie endlich, nach fast 20 Jahren, ihren endgültigen Musikstil gefunden, der sich nicht weiter beschreiben lässt, als avantgardistischer, extremer Metal. Kyo lässt sich sogar, was seinen kreativen Output betrifft, kaum mehr stoppen, je älter er wird: Nicht nur veröffentlicht er Poesiesammlungen, sondern hat auch ein eigenes musikalisches Sideproject namens Sukekiyo, das 2013 gegründet wurde, drei Alben herausbrachte und sanftere Töne, hauptsächlich bestehend aus Klassik und Progressive Rock, anschlägt, was auch seine diversen Einflüsse aufzeigt. Wenn man die Mitglieder Dir En Greys nach ihren Lieblingsalben fragt, kommen nicht nur Pioniere des J-Rocks wie X Japan oder D’erlanger als Antworten, sondern auch westliche Bands wie Bauhaus, The Beatles, Alice in Chains und Radiohead.
Egal wie viele Worte man über Dir En Grey verliert, es wird nie der explosiven, emotionalen Schlagkraft ihrer Musik gerecht. Je mehr man über diese Band schreibt, desto eher verliert man sich in der variablen Diskografie der Gruppe, kann sich kaum entscheiden, welche Publikationen wirklich wichtig sind, da sie alle einen Abschnitt der langen Bandgeschichte aufzeigen, und endet in einem wörtlichen Chaos – doch nichts anderes ist die Musik, ist die Performance dieser eklektischen, innovativen und eigenbrötlerischen Musiktruppe. Dir En Grey ist kaum beschreibbar, kaum in Worte zu fassen, wie ich schon am Anfang meinte; doch das muss man auch nicht. Alles, was man bei dieser Band auf sich wirken lassen muss, ist die Musik und die Wirkung dahinter: Die endlos variable Stimme und die makabren, aber traurig schönen Texte Kyos, die virtuosen Gitarrenmelodien Dies und Kaorus, den treibenden, groovy Bass Toshiyas und die rhythmischen, aber gleichzeitig vertrackten Drum Beats Shinyas, der bei seinen Live Auftritten ein riesiges Schlagzeugset bedient, ohne jemals aus dem Song zu fallen.
Eigentlich sind all die Worte, die ich zu dieser Gruppe geschrieben habe, irrelevant, und ich hätte einfach zehn Songbeispiele hier hineinpacken können, um den Impact Dir En Greys auf den/die HörerIn gebührend darzustellen, doch … trotz all der ausverkauften Konzerte, trotz all der internationalen Touren, trotz der mittlerweile zehn veröffentlichten Alben verdienen sie all die Aufmerksamkeit, die sie bekommen können, da Dir En Grey nicht nur die innovativste Band ist, die ich jemals gehört habe, sondern auch die, die ihre aufgestauten, realen, negativen Emotionen so offen nach außen trägt, wie es nur geht, und das, obwohl man nur die wenigsten Lyrics versteht. Der letzte Song, der 2019 von ihnen released wurde, namens »The World of Mercy« ist wie eine zehnminütige Achterbahnfahrt durch Brutalität, Verletzlichkeit und Poesie und man merkt, dass diese Gruppe noch lange nicht das Ende ihrer Fahnenstange erreicht hat.
Hier noch fünf Musikbeispiele, auf die ich mich irgendwie gezwungenermaßen festlegen konnte; für alle (vor allem für »Obscure«) besteht in gewissen Maßen ein Content Warning und das NSFW Label, die Songs sind chronologisch geordnet:
Beitragsbild: © Louder
Ein toller informativer Beitrag. 🙂