Dialektik der Freiheit

Ein Text über das Erwachsenwerden und die ewige Suche nach Freiheit.
von Crispin Coy
Seitdem du klein bist, hast du darüber nachgedacht:
Was will ich werden, wenn ich einmal groß bin?
Dann kam sie irgendwann, die Einschulung, die ersten richtigen Freundschaften, von denen einige vielleicht bis heute noch halten. Deine ersten richtigen Interessen. Dein erster Sportverein. Die ersten Lehrer:innen, die dir dein Leben zur Hölle gemacht haben. Zumindest dachtest du das damals.
Dann irgendwann die weiterführende Schule. Ein neues Kapitel, die Erkenntnis, dass die Grundschule ja eigentlich doch gar nicht so schwer war. Und dann war da der erste Schluck Bier, die erste Zigarette, die erste Party. Die ersten Erfahrungen mit der Liebe. Vielleicht eine unerwiderte Liebe, irgendwann die erste Trennung, ein gebrochenes Herz. Für dich damals ein Weltuntergang. Dachtest du jedenfalls. Egal, dein Blick in Richtung Freiheit, wenn die Schule endlich vorbei ist.
Dann, der Abschluss. Endlich Freiheit. Euphorisch blickst du in die Zukunft.
Ist es jetzt endlich so weit?
Dann aber: Arbeiten, der Wunsch auszuziehen, neue Erfahrungen zu machen, neue Freunde zu finden. Wenn du das alles hast, dann bist du endlich frei. Oder?
Und dann – du hast es vielleicht erahnt, wolltest es aber nicht glauben. Du hörst es in den Nachrichten – nun wird dir plötzlich klar, was Freiheit eigentlich ist.
Denn jetzt musst du auf einmal weg. Weg von da, wo du die ganze Zeit dachtest, du brauchst noch mehr. Aber jetzt weißt du nicht mal mehr, ob du überhaupt noch einmal das haben wirst, was du die ganze Zeit hattest.
Ob du deine Großeltern noch einmal wieder sehen wirst. Deine Eltern. Deine Geschwister. Ob dein Zuhause in ein paar Wochen noch stehen wird.
Jetzt fragst du dich nicht mehr, was du wirst, wenn du groß bist. Jetzt fragst du dich, ob du einmal groß wirst.
Titelbild: © Crispin Coy
Student der vergleichenden Kulturwissenschaft und Politikwissenschaft