#sovietarchitecture: Ein fragwürdiger Trend?

Triste Plattenbauten – Cut – Brutalistische Wohntürme – Cut – Im Hintergrund: hämmernde Bässe von Russian Indie bei 130 bpm. Auf Social Media tummeln sich Videos mit diesem Drehbuch. In ihnen wird vorwiegend das Wohnen in Gebäuden »sowjetischen Baustils« ästhetisiert – ein Trend, welcher bedenkliche Narrationen und Denkweisen offenbart. Ein Versuch der Einordnung und ein subjektiver Blick auf ein komplexes Thema.
von Franzi Leibl
Die Platte: typisch UDSSR beziehungsweise DDR?
Geschichte begegnet uns tagtäglich. Sei es auch nur, wenn wir an nächstgelegenen Gebäuden der Großtafelbauweise (so lautet der korrekte Fachbegriff für »Plattenbau«) unserer Heimatstadt vorbeigehen. In der ehemaligen »westlichen Besatzungszone« Deutschlands stehen entsprechende Wohngegenden bis heute symbolhaft für die Narration des »Wiederaufbaus« und des »Wirtschaftswunders« der Nachkriegszeit. Dennoch würde man wohl instinktiv sagen: »Die Platte ist doch typisch ostdeutsch!«
Zugegeben: Blickt man in »sowjetisch-geprägte« Staaten, so könnte man bei der charakteristisch hohen Dichte an Plattenbau-Siedlungen (sogenannten Mikrorayons) durchaus zu dem Schluss kommen, dass sie einst staatseigene Erfindungen waren.
Tatsächlich war die Großtafelbauweise aber eine Neuheit aus den USA und wurde erstmals in New York Anfang des 20. Jahrhunderts verwirklicht. Im Deutschland zu Zeiten der Weimarer Republik fand diese Bauweise auch sehr früh einige Anhänger: So wurde eine erste Wohnsiedlung in Berlin-Lichtenberg Mitte der 1920er umgesetzt. Auch die Nationalsozialist:innen sowie die Sowjetunion unter Stalin fanden Gefallen an der Effizienz und Uniformität des »Seriellen Bauens«, und setzten bereits einige Bauprojekte dieser Art in die Tat um.
Noch in den 1950er bis 1980ern erhoffte man sich in vielen Industrie-Nationen von dem grauen Baustil eine große Zukunft. In Westdeutschland herrschte das Ideal des bürgerlichen Lebens im »Eigenheim« mit der Kernfamilie, einem Auto und Garten dennoch parallel vor.
In der UDSSR war dies ein weniger propagiertes Ideal. Nicht ohne Grund steht die Sowjetunion bis heute symbolhaft für Mikrorayons, denn: Sie sind der Politik des damaligen Staatsoberhauptes Nikita Chruschtschow geschuldet. Mitte der 1950er Jahre, kurz nach dem Tode Stalins, versprach er ein Ende der ewig währenden Wohnungsnot der UDSSR. Sein damaliger Lösungsvorschlag: ein erschwingliches Eigenheim für Familien egal welchen Berufes, war doch die damalige Bevölkerung aufgrund der zahlreichen Vertreibungen und Kriege bisher ein bescheidenes Leben in Baracken oder in Gemeinschaftswohnungen, den sogenannten Kommunalkas, gewohnt. Oftmals wurden sich in Letzteren Bad und Küche auf einer Etage geteilt. Die Vision eines Eigenheims wirkte daher verständlicherweise paradiesisch. Die Sowjetunion verwirklichte bis in die 1990er hinein zahlreiche Großbauprojekte dieser Art, doch das Versprechen attraktiver Wohnungen konnte nie gänzlich eingelöst werden, zumal allein die Qualität der Bausubstanz und Infrastruktur zu wünschen übrig ließ, und eine freundschaftlich verbundene Nachbarschaft – aus Angst vor möglichen Spionageversuchen – seitens der Nachbar:innen nicht selten ausblieb.
Plattenbauten im Westen
Auch in anderen Industrie-Ländern, besonders im «westlichen Block«, hatte der Baustil eine Blütezeit: besonders in den 1950er bis 1970er Jahren. Später, etwa ab den 70er Jahren, wurde bereits damals vereinzelt Kritik laut, dass die tristen Wohnviertel vielmehr zu Depressionen, Anonymität und sozialen Brennpunkten führen würden. Der karge Baustil wurde dahingehend zunehmend hinterfragt, jedoch trotzdem nach einigen Anpassungen weiter umgesetzt, manchmal (wie beim Ihme-Zentrum in Hannover) gar als Vision eines gehobenen Wohnviertels mit Einkaufsmeile. Nach der Wiedervereinigung häuften sich jedoch Leerstände in entsprechenden Wohnblöcken.
An dieser Stelle sollte betont werden: Nicht alle Verwirklichungen des Brutalismus oder der Großtafelbauweise sind heute Sozialwohnbauten oder soziale Brennpunkte. So setzen auch heute wieder vermehrt Bauunternehmen oder auch der deutsche Staat auf einen ähnlichen Stil des Seriellen Bauens, um das Problem des bezahlbaren Wohnraums zu lösen. Allerdings gelten heute andere Vorschriften bei der Stadtplanung. So gehören die Nähe zu Grünflächen, Anschluss an den ÖPNV, Einkaufsmöglichkeiten oder Kinderspielplätze in naher Entfernung nahezu zu festen Charakteristika eines neu errichteten Wohnkomplexes. Auch gibt es wohl noch heute Menschen, die schlicht den Charme der alten Plattenbausiedlungen schätzen, und daher gerne und aus freier Entscheidung heraus dort leben möchten.
Dennoch ist auch Fakt: Alte und lange Zeit nicht mehr renovierte Plattenbau-Siedlungen sind in vielen Fällen keine Wohngegenden, in die man freiwillig ziehen wollen würde, wenn man eine wirklich freie Wahl hätte; sei es aus finanzieller oder sei es aus system- oder sozialpolitischer Perspektive heraus.
Mögliche Hintergründe des Trends
An dieser Stelle gelangen wir zurück zu dem großen Thema dieses Artikels: dem geschmacklosen Social Media-Trend. Denn die Ästhetisierung solcher kargen, oftmals ärmlichen Wohnviertel ist aus ethischer Betrachtung heraus schlichtweg fragwürdig. Kontextualisierungen unter den Videos fehlen oftmals. Es wird an Wohnungen herangezoomt und Menschen des Viertels werden gefilmt.
Auf TikTok finden sich nicht wenige Influencer:innen, die eine Art (N)Ostalgie nahezu zu beschwören scheinen, indem sie die Wohngebäude mit russischer Musik untermalen, und behaupten, dies wäre der »typisch sowjetische« oder »transnistrische Vibe«, den ihre Vorfahren bereits erlebt hätten. Was soll damit bewirkt werden? Patriotismus? Das Herbei-Sehnen einer (anderen) autoritär-totalitären Zeit? Einer »damals war alles besser«-Zeit? Es ist unbestreitbar, dass für entsprechende Bewohner:innen, die dort aufgewachsen sind, diese Viertel ein fester Bestandteil des Heimatgefühls sind. Sie dürfen sie selbstverständlich als »heimisch« und »vertraut« definieren. Auch aus historischer, architektonischer und künstlerischer Sicht sind die Viertel oft bedeutsam und nicht selten gar ein UNESCO-Welterbe. Dennoch sollten die Lebensrealitäten dabei nicht vergessen werden: Sowohl diejenigen der vergangenen als auch diejenigen der heutigen Zeit. Denn nur weil etwas gewohnt und »doch schon lange so gewesen ist«, ist es noch lange nicht automatisch erhaltens- und erstrebenswert oder gar: menschenwürdig.
Ferner offenbart sich der Trend als fragwürdig, wenn er von Auswärtigen, also Tourist:innen, ausgeht, welche in soziale Brennpunkte reisen, um die dortige Architektur und Lebensweise mit eigenen Sinnen zu »erfahren«. Einen solchen Tourismus gibt es seit dem 19. Jahrhundert; er ist also keine Neuheit und ist vermutlich von vielen Menschen, welche in der heutigen globalisierten Welt umhergereist sind, schon mindestens einmal bewusst oder unbewusst praktiziert worden.
Im Falle des hier vorliegenden Beispiels wird jedoch bewusst gefilmt und das Videomaterial im Anschluss (unterlegt mit dramatischen Fotofiltern und untermalt mit Dark Wave-Musik) auf Social Media unter Hashtags wie #sovietarchitecture oder #darkaesthetics veröffentlicht, und dort hunderttausendfach angesehen und geteilt. Oftmals werden unter solchen Posts Kommentare wie »Oh, I’d love to live there« hinterlassen.
Die aus dem Kontext gerissene Darstellung des Lebens in einem Viertel ohne Zukunftsaussichten verleitet offenkundig privilegiertere Menschen oftmals zu vorschnellen und verharmlosenden Urteilen über die dortige Lebensrealität.
Menschen sind keine Zootiere!
Die Wohngegend von Menschen, welche über wenig finanzielle Mittel verfügen, lediglich aufzusuchen, um daraufhin ihr Elend – wie Zoobesucher:innen gleichend – zu begutachten, ist die eine Seite der ethischen Geschmacklosigkeit. Sich aber in diese Gegenden zu begeben, um deren im Stich gelassene Bausubstanzen zu filmen, dabei frei aus vermarktungstechnischen Absichten heraus zu handeln und das deprimierende und zukunftslose Leben gar zu ästhetisieren, ist die andere wahrlich geschmacklose Seite.
Wenn man schon meint, man müsse aus purer architektonischer Faszination heraus in entsprechende Viertel gehen, so sollte man doch wenigstens die Privatsphäre und Lebensrealität der Einheimischen achten. Diese fühlen sich nicht ohne Grund oftmals wie beobachtete Tiere in einem Käfig.
Eine mögliche Alternative der Herangehensweise könnte Folgendes sein: In manchen Städten gibt es Führungen von Einheimischen oder Sozialarbeiter:innen, an denen man oftmals kostenlos teilnehmen und so ins Gespräch mit »Zeug:innen« treten kann. Gleichzeitig gibt man den Einheimischen auch etwas zurück: Respekt und (hoffentlich) ehrliches Interesse. Und im besten Fall bekommt man auch Lust, soziale Hilfsprojekte zu unterstützen oder sich anderweitig zu engagieren, um diesen Zuständen entschieden entgegenzutreten.
Wenn überhaupt, so sollte ein filmischer Bericht also auf dokumentarische Art und Weise – mit Durchleuchtung multiperspektivischer, auch historischer Hintergründe und einer Aufdeckung von Versäumnissen – geschehen.
Denn wo und wie man wohnt, ist nicht immer eine freie Entscheidung. Wie man als Besucher:in oder Betrachter:in mit dort lebenden Menschen und deren Lebenssituation umgeht, hingegen schon.
Einige spannende Texte zum Weiterlesen, Stand: 22.02.25:
https://www.dekoder.org/de/gnose/chruschtschowki-plattenbau-osterman-chruschtschow
https://www.deutschlandfunkkultur.de/serielles-bauen-plattenbau-bauhaus-100.html
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/183458/wohnen
https://www.nomos-elibrary.de/de/10.5771/0340-8574-2014-5-185.pdf?download_full_pdf=1 (Ein wissenschaftlicher Artikel über SlumTourismus und soziale Stadtführungen)
Titelbild ©Franzi Leibl
Kolumnenleitung von »Krea:tief« – Studentin der Französischen Philologie, Geschichte und Philosophie/Ethik