Schreibwerkstatt: »Aromatherapie«
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Ein Text zum Thema »Begegnungen und Gespräche« der Printausgabe 38 der Lautschrift, verfasst im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.
von Friederike Schmid
Es ist 7:11 Uhr, morgens, mitten in der Innenstadt. Es nieselt, die Schaufenster sind dunkel, und Winston pinkelt an einen Baum. Der Geruch seines Urins steigt in die stille Straße auf und er weiß: Die Welt ist in Ordnung. Auf dem Pflasterstein schleicht ein Auto vorbei, das Fenster der Fahrerseite schiebt sich surrend nach unten. Der Jingle von Antenne Bayern scheppert zwischen den Hauswänden hin und her. Ist hier nicht Fußgängerzone? Oder gilt das erst ab 8? Winston schüttelt seinen Kopf, die Ohren schlackern. Das Publikum stört ihn in seiner Morgenroutine, er wäre lieber alleine unterwegs, aber das ist er selten, also verrichtet er sein Geschäft und ignoriert, dass der SUV jetzt stehengeblieben ist.
»Wie alt ist er?« Winston weiß, dass die Frage nicht an ihn gerichtet ist, und wendet seine Aufmerksamkeit einem Stück Plastikverpackung auf dem Boden zu. Das Aroma von Erdnussbutter überlagert die Spuren der anderen Hunde und Menschen, die sich gestern durch diese Straße gewälzt haben. Er will gerade die Zunge ausstrecken und probieren, hört die Plastikfolie schon rascheln, da wird es eng an seinem Hals und er wird zurückgezogen. »Fünf«, sagt sein Besitzer, ziemlich harsch, er ist wohl noch verschlafen.
»Oh.« Kurze Pause. Dann das Geräusch der sich öffnenden Autotür. Die kleine Frau am Steuer schwebt hoch oben über der Straße, beim Aussteigen ist sie ein paar Millisekunden mit beiden Beinen in der Luft, bis sie auf dem Boden landet. Scharfer Parfumgeruch breitet sich in einer Wolke um ihre Einschlagsstelle aus. Winston niest. Das Epizentrum der Wolke beugt sich zu ihm herunter, säuselt: »Na du Süßer! Wer bist du denn?« Winston niest noch einmal. Die frisch lackierten Krallen der Frau haben sich in sein Nackenfell gegraben und ihr Gesicht ist jetzt ganz weit unten, ganz nah an seinem eigenen, ein bisschen zu nah. Sie hat schon gefrühstückt, Porridge, das riecht er.
»Er heißt Karl.« Sein Besitzer gibt der Leine einen Ruck, und Winston stolpert auf seinen kurzen Beinen zurück. Wer nennt denn einen Hund Karl, fragt er sich, wie so oft. Die Frau erkennt die Unruhe seines Besitzers und richtet sich auf. »Ich muss dann auch mal weiter«, sagt sie und »Tschüss, Karl«, und dreht sich um und beginnt den Anstieg in ihr Auto. Die Parfumwolke verschwindet, als der Motor losbrummt. Winston niest. Wo war er? Erdnussbutter. Der Baum. Sein Besitzer – er heißt Martin – geht schon voraus die Straße entlang, Winston streckt noch einmal die Schnauze aus, aber die Leine zieht ihn fort vom Versprechen von Zucker und Plastik und vom heimatlichen Geruch seines Urins. Es ist 7:15 Uhr, und Winston geht nach Hause.
Titelbild © Olivia Rabe