Zwischen Gleichgültigkeit und Mitschuld

Zwischen Gleichgültigkeit und Mitschuld
Man versprach Ordnung und Sicherheit – zurück blieben Stille und Trostlosigkeit. Zu viele sahen schweigend hin, als es begann. Jetzt gibt es nichts mehr zu sehen. Das ist die Welt, die wir wählten, oder die wir nicht verhinderten.

von Sophie Stigler

Die Straßen wirkten vertraut, doch irgendetwas hatte sich verändert. Vor zehn Jahren war es noch undenkbar gewesen, dass die Worte, die man in hitzigen Versammlungen hörte, Wirklichkeit werden könnten. Doch jetzt wehten die Flaggen mit den vereinfachten Symbolen überall, die Gesichter auf den Plakaten hatten ein strenges, fast unerbittliches Lächeln, und in den Köpfen der Menschen war die Angst durch dumpfen Gehorsam ersetzt worden.

In dieser Welt ist alles in starren Linien gezogen, wie eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, deren Farben die Zeit ausgelöscht hat. Eine Landschaft, die nicht wächst, die keine Hoffnung kennt. Sie fühlt sich an wie ein Ort, an dem alle Türen verriegelt und alle Stimmen verstummt sind.

Es begann nicht mit einem Knall, sondern mit einem Flüstern. »Wir müssen uns schützen«, hatten sie gesagt. »Wir müssen uns auf uns selbst konzentrieren«. Mit einfachen Sätzen gewannen sie die Herzen. Sie versprachen Ordnung, sie versprachen Sicherheit. Grenzen wurden dichter, Stimmen leiser, die Vielfalt blasser. Und immer wieder hieß es: »Das ist zu eurem Schutz.« Doch ihre Worte rochen nach Moder, nach einer Vergangenheit, die wir längst begraben glaubten.

Die nächsten, die verschwanden, waren die, die sich weigerten, sich anzupassen. Künstler:innen, Denker:innen, Journalist:innen – sie wurden »Unruhestifter« genannt. Ihr Schweigen wurde zu einem Echo, das bald niemand mehr hörte. Man hatte gelernt, wegzusehen. Schließlich waren es ja nur »andere«. Die sagten: »Es liegt nicht an euch, es liegt an denen.« Es war die älteste Lüge, und doch glaubten sie sie erneut.

Vor zehn Jahren hatte es Warnungen gegeben. Die alten Bücher waren da, die Geschichten erzählt, die Narben der Vergangenheit sichtbar. »Nie wieder«, sagte man damals. Doch das Echo dieser Worte verhallte in den Hallen der Bequemlichkeit. »Wir wissen es besser«, dachten sie. Aber die Forderungen hatten sich nur ein neues Gewand angezogen: weniger marktschreierisch, mehr verpackt in pseudodemokratischen Worten. Sie sprachen nicht mehr von Reinheit, sondern von »Kultur«. Nicht mehr von Feinden, sondern von »Störfaktoren«.

Das Land wurde still. Das Wort »Vielfalt« verschwand aus den Büchern. Schulen lehrten, was der Staat vorgab, denn es hieß, zu viel Information sei »verwirrend«. Die »alten Geschichten«, die die Warnungen vor Wiederholungen trugen, wurden aus den Regalen genommen. »Das war damals«, sagten sie. »Heute ist alles anders.«

Doch es war nicht anders.

Die Menschen blickten auf leere Plätze, wo einst Stimmen erklangen, die sich nicht einfügen wollten. Sie blickten auf Nachbarn, die gegangen waren und nicht zurückkehrten. Sie sahen die Farben in ihren Städten verblassen und fühlten, wie die Mauern enger wurden. Aber sie sagten nichts. »Es ist ja nicht mein Problem«, dachte jede:r. Wir haben sie gewarnt, haben gerufen: Achtet auf die Zeichen, hört hin, lernt aus der Geschichte! Doch so viele wollten nicht zuhören. Die Warnungen prallten ab wie Regen auf kaltem Stein. Die Stimmen, die gegen den Strom ankämpften, fühlten sich an wie Tropfen in einem endlosen Meer, verloren, ohne Wirkung.

Die grauen Fassaden der Gebäude scheinen uns anzustarren, als wüssten sie, was wir getan haben. Die Straßen, einst voller Leben, wirken wie Narben, die sich durch die Stadt ziehen. Und wir wissen: Es waren nicht die Fremden, die das brachten. Es war der Hass, der in uns selbst wuchs, genährt von Angst und Ignoranz. Das ist die Welt, die wir wählten, oder die wir nicht verhinderten.

Jetzt, zehn Jahre später, begannen die Zweifel. »Wie konnte es so weit kommen?«, murmelte jemand in einer Ecke. »Das haben wir doch nicht gewollt.« Aber die Frage war nicht, wie es so weit kommen konnte. Die Frage war, wann es begann.

Denn es hatte mit der Gleichgültigkeit begonnen. Mit den kleinen Augenblicken, in denen sie weghörten, in denen sie dachten, es sei nicht ihr Kampf und es würde alles nicht so schlimm werden. Mit den kleinen Zugeständnissen an die geschürte Angst, die sich als Vernunft tarnte. Und mit jedem Zugeständnis wurde der Abgrund tiefer.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, sagte man einst, weil wir aus ihr gelernt haben. Doch sie hatte sich wiederholt, nicht als Kopie, sondern als Variation. Der Kreis schloss sich ein weiteres Mal, weil niemand auf die Warnungen hörte.

Nie wieder ist nicht ein Versprechen, das man in die Zukunft verschiebt. Nie wieder ist jetzt. Es liegt in den kleinen Entscheidungen – den Stimmen, die man erhebt, wenn es noch einfach ist, den Widerstand, den man leistet, wenn es noch Mut kostet, aber keine Konsequenzen hat.

Die Welt hatte die Chance, die Geschichte zu ändern. Doch sie ließ sie verstreichen. Jetzt saßen sie da, blickten auf das, was aus dem Flüstern geworden war, und sagten: »Wir haben es nicht gewusst.« Aber das ist nicht wahr. Sie wussten es. Wir alle wussten es. Und dennoch schwiegen zu viele.

Die Straßen sind grau. Die Luft ist schwer. Und der einzige Klang ist der von Schritten, die nicht wissen, wohin sie führen.

»Nie wieder« ist eine Wahl. Aber die Wahl ist nur jetzt möglich – in der Gegenwart. Danach bleibt nur Stille.


Titelbild: © Luis Schraufl

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Studentin der Politikwissenschaft, Vergl. Kulturwissenschaft und Kollektivwissenschaft

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