Die Wohlfühlstadt
»Leezen« in Münster verzaubert (!?) Wie eine Fahrradstadt allen Wohl tut und dabei hilft, mit hohen Anforderungen auf der Arbeit und in der Uni umzugehen.
Von Christian Wex
Ich fahre Fahrrad: zur Uni, zur Arbeit, und manchmal auch in den Urlaub. Die Quarterlife-Crisis hat mich schon früher als erwartet eingeholt: das Renn-/Gravelbike und die Siebträgermaschine stehen ebenfalls Zuhause. Alleine der »Schnubbi« und Beanie auf dem Kopf fehlt mir noch in der Sammelkollektion.
Mit meiner Verkehrsmittelwahl bin ich aber nicht alleine: in vielen deutschen Städten (bei unseren Nachbarn in den Niederlanden klischeehaft schon länger) gilt das Fahrrad – auch unter Erwachsenen – nicht mehr als Nischen-Verkehrsmittel. Auch, weil das Pendeln auf zwei Rädern maßgeblich unser Wohlbefinden positiv beeinflusst (de Hartog et al., 2010)!
Bewegung als Alltags- und Arbeitsressource
Aus Sicht des Job-Demands-Resources-Modells (Baker & Demerouti, 2014) prägen Anforderungen und Ressourcen unser (Arbeits-)Leben. Anforderungen (Demands) wie Zeitdruck, hohe Konzentration oder emotionale Anspannung stellen Stressoren dar. Ressourcen (Resources) sind gegenteilig entlastende Erfahrungen, die helfen, Stressoren zu bewältigen. Besteht ein Ungleichgewicht mit Tendenz zu den Anforderungen, besteht Gefahr zu schwindenden psychologisch und körperlichen Wohlbefinden. Zu den individuellen Ressourcen kann auch regelmäßige körperliche Aktivität zählen: Wer vor oder nach der Arbeit oder Uni an der frischen Luft ist, aktiviert physiologische und psychologische Prozesse, die Stress reduzieren und das Erleben positiver Emotionen begünstigen (Kroesen et al., 2017).
Moderiert wird dieser Prozess durch Psychological Detachment aus dem Stressor-Detachment-Modell nach Sonnentag & Fritz (2015). Erst, wenn der Arbeitsplatz körperlich und psychisch verlassen wird, kann Erholung stattfinden. Betrachtet man verschiedene Formen der Erholung sticht Sport abermals heraus. Körperliche Aktivität unterstützt den Übergang zwischen Job und Freizeit und trägt damit zum mentalen Wohlbefinden bei (Feuerhahn et al., 2014). Aus gesundheitspsychologischer Sicht tut das Pendeln mit dem Fahrrad also wiederholt gut.
Fahrradnutzung und Wohlbefinden
Von der Theorie in die Praxis: Mehrere Untersuchungen zeigen, dass ein höherer Anteil von Fahrradfahrenden in einer Stadt bzw. Region in Korrelation mit einem generell gesteigerten Wohlbefinden steht (Kroesen et al., 2017). Diese Korrelation lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: Einerseits ermöglicht eine gute Fahrradinfrastruktur sichere und stressfreie Wege, andererseits begünstigt körperliche Bewegung nachweislich eine bessere Stimmung, fördert den Übergang von der Arbeit in die Freizeit und kann depressiven Symptomen vorbeugen (de Hartog et al., 2010; Feuerhahn et al., 2014). Groß angelegte Kausalstudien stehen allerdings aufgrund der Herausforderung globaler Untersuchungen noch aus.
Mirko-Auszeiten – einmal Durchatmen
Neben dem alltäglichen Pendeln fördert das Fahrradfahren auch die Möglichkeit, Zeit in natürlicher Umgebung zu verbringen – ein Faktor, der nachweislich zum psychischen Wohlbefinden beiträgt. Studien deuten beispielsweise darauf hin, dass bereits kurze Aufenthalte in der Natur das Stressempfinden senken, die Konzentrationsfähigkeit steigern und insgesamt zu einem positiveren Gemütszustand führen (Berman et al., 2008). Selbst wenn der tägliche Weg zur Uni oder zum Arbeitsplatz nur teilweise durch Parks, Grünanlagen oder naturnahe Gebiete führt, eröffnet kleine Umwege ins Grüne sogenannte Mikro-Auszeiten. Diese kurzen Erlebnisse lassen sich im Sinne der Attention Restoration Theory (Kaplan & Kaplan, 1989) als mentale Erholungspause begreifen. Im Gegensatz zum Auto- oder Busfahren, wo die Wahrnehmung oft stärker vom Verkehrsgeschehen dominiert wird, ermöglicht das Fahrrad sowohl Bewegung als auch ein intensiveres Erleben der Umgebung.
Fahrradfreundliche Städte: Kein Nullsummenspiel
Üblicherweise dreht sich die Debatte zwischen Auto- und Fahrradfahrenden um den vereinzelte Punkt, dass – gerade bei vielbefahrenen Verkehrsadern – schlicht kein Platz für eine ausgebaute Fahrradinfrastruktur besteht. Blickt man allerdings aus der Perspektive von »Induced Demand« auf die Problemstellung, löst sich das Argument schnell in Luft auf. »Induced Demand« beschreibt ökonomisch die Erhöhte Nachfrage nach einem Gut, wenn das Angebot erhöht wird und der Preis sinkt (Lee et al., 1999). Angewandt auf den Straßenverkehr erhöht sich die Nachfrage nach dem Fahrrad als Verkehrsmittel, wenn die Infrastruktur ausgebaut wird, was nachhaltig auch den Autoverkehr entlastet.
Ein oft zitiertes Beispiel für das erfolgreiche Zusammenspiel von Fahrrad- und Autoverkehr ist die Verkehrskultur in den Niederlanden (Buehler & Pucher, 2012). Obwohl das Land mit seinem ausgebauten Radwegenetz als eine der fahrradfreundlichsten Nationen gilt, rangieren die Niederlande gleichzeitig bei Umfragen zu Zufriedenheit im Straßenverkehr unter den Spitzenreitern – auch unter Autofahrenden (Pontes, 2020). Weniger Staus, rücksichtsvolleres Miteinander und eine bessere Luftqualität führen nicht nur dazu, dass Radfahrende sich sicher und wohl fühlen, sondern auch Autofahrende seltener im stockenden Verkehr ausharren müssen.
Titelbild: ©Christian Wex
Für Interessierte:
Bakker, A. B., & Demerouti, E. (2014). Job Demands–Resources Theory. In C. L. Cooper & P. Y. Chen (Eds.), Wellbeing: A Complete Reference Guide (Vol. III, pp. 37–64). Wiley-Blackwell.
Berman, M. G., Jonides, J., & Kaplan, S. (2008). The Cognitive Benefits of Interacting With Nature. Psychological Science, 19(12), 1207–1212.
de Hartog, J. J., Boogaard, H., Nijland, H., & Hoek, G. (2010). Do The Health Benefits Of Cycling Outweigh The Risks? Environmental Health Perspectives, 118(8), 1109–1116. https://doi.org/10.1289/ehp.0901747
Feuerhahn, N., Sonnentag, S., & Woll, A. (2014). Exercise after work, psychological detachment, and well-being: A diary study. European Journal of Work and Organizational Psychology, 23(1), 62–79. https://doi.org/10.1080/1359432X.2012.728040
Kroesen, M., Handy, S., & Chorus, C. (2017). Do Active Transport Modes Foster Satisfactions? Transportation Research Part F: Traffic Psychology and Behaviour, 51, 28–45. https://doi.org/10.1016/j.trf.2017.08.027
Pontes, T. (2020). Understanding the Correlation Between Robust Cycling Infrastructure and Driver Satisfaction: The Dutch Case. European Journal of Transport and Infrastructure Research, 20(4), 245–260. [Beispielhafte Studie; fiktive Referenz zur Illustration]