»Der Fremde« in der digitalen Gesellschaft
»Es war mir egal, aber wenn es dafür Likes gab, war ich bereit dazu«. »Der Fremde« und die Gesellschaft auf der Suche nach Sinn in einer bedeutungslosen (digitalen) Welt? Warum sich ein Existenzialismus-Klassiker wieder in den gesellschaftlichen Diskurs einmischt.
von Christian Wex
Meursault, ein Leben jenseits der Konventionen
»Ich öffnete mich zum ersten Mal der zarten Gleichgültigkeit der Welt«. Mit diesen Worten fasst Meursault – die Hauptfigur aus »Der Fremde« – am Ende des Romans eine Haltung zusammen, die in ihrer Radikalität verstört und fasziniert. Doch wie kam es zu diesem Punkt, und warum bleibt diese Aussage bis heute provokant?
Meursault, ein scheinbar emotionsloser Mann, lebt in Algier. Der Roman beginnt mit einem Schock: »Heute ist Mama gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht«. Anstatt Trauer zeigt er absolute Gleichgültigkeit. Bald darauf beginnt er eine Affäre mit Marie, doch auch ihr gegenüber zeigt er Distanz: „Es war mir egal, aber wenn sie das wollte, war ich bereit dazu.“ Eine Reihe von Ereignissen führt schließlich dazu, dass Meursault einen Mann erschießt. Die Tat scheint sinnlos, und doch wird sie zur Grundlage für seine Verurteilung – nicht nur juristisch, sondern auch moralisch. Die Gesellschaft richtet über Meursaults fehlende Emotionen, nicht nur über seine Tat.
Die Sinnsuche in einer bedeutungslosen Welt
Camus’ Existenzialismus dreht sich um das Absurde: Der Mensch sucht verzweifelt nach Bedeutung, kann diese aber in einer Welt ohne höheren Sinn nicht finden. Meursault dient als Personifizierung dieser Weltansicht – der völligen Gleichgültigkeit. Er lebt, wie er will, ohne sich um gesellschaftliche Normen zu kümmern – »Es war mir gleichgültig«. Sein Unwille, den Erwartungen anderer zu entsprechen, macht ihn zum Spiegel für die Zweifel der Lesenden: Welcher Sinn steckt hinter meiner eigenen Arbeit? Gibt es diesen überhaupt?
In der digitalen Welt erleben wir das Absurde täglich. Likes, Kommentare und Follower geben uns das Gefühl, wichtig zu sein – doch was bleibt davon übrig, wenn das Smartphone ausgeschaltet ist? Meursaults Gleichgültigkeit spiegelt die Leere hinter der Fassade des digitalen Lebens wider. Eine Fassade, die sich nicht eindeutig als Teil von uns oder als Spiegel der Erwartungen Anderer identifizieren lässt.
Meursault und unsere digitale Welt
Meursault als Prototyp des distanzierten Menschen – eine Rolle, die viele von uns unbewusst übernehmen. »Die Leute nahmen mir übel, dass ich während der Totenwache geschlafen und keinen Schmerz gezeigt hatte«. Sein Verhalten stößt auf Ablehnung, ähnlich wie heute Menschen betrachtet werden, die online nicht verfügbar sind.
Gleichzeitig zeigen Studien: Je mehr Zeit wir online verbringen, desto isolierter fühlen wir uns. Was bleibt also von unserer Entscheidungsfreiheit übrig, wenn eine Entscheidung zwischen der Isolation im digitalen Raum der Gesellschaft und der Isolation unserer Gefühle durch zu hohen Medienkonsum gefällt werden muss?
Liebe auf Distanz: Meursault und Marie
Eine der faszinierendsten Beziehungen in »Der Fremde« ist die zwischen Meursault und Marie. Obwohl Marie ihn liebt, bleibt er emotional unbeteiligt: »Ich sagte, dass es mir gleichgültig sei und dass wir heiraten könnten, wenn sie das wollte«. Kurz, pragmatisch, ohne echtes Engagement. Parallelen zu Tinder, Bumble und Co.? Beziehungen werden oft zu Transaktionen, bei denen Tiefe gegen Bequemlichkeit eingetauscht wird. Was bleibt, wenn aus der Romantik und dem sich Begegnen nur noch ein Swipen um des Swipen willen wird?
Meursaults Revolte als Vorbild?
Was macht Meursault so radikal? Er weigert sich, sich zu verstellen, das Absurde zu akzeptieren und dennoch bewusst zu leben – eben nach seinen eigenen Werten. »Das Leben intensiv leben, auch wenn es keinen höheren Sinn hat« schreibt Camus. Meursaults Akzeptanz seines Schicksals als er zum Tode verurteilt wird: »Ich öffnete mich zum ersten Mal der zarten Gleichgültigkeit der Welt«. Dabei zeigt er, wie wir in einer oberflächlichen Welt echte Authentizität finden können: durch Ehrlichkeit, durch das Schaffen von eigener Bedeutung vor dem Hintergrund der Bedeutungslosigkeit vorgegebener Werte.
Was wäre, wenn man Meursaults Revolte auf die digitale Welt übertragen würde? Es könnte bedeuten, weniger darauf zu achten, wie viele Likes ein Beitrag bekommt, und mehr darauf, was uns wirklich glücklich macht. Vielleicht liegt echte Authentizität darin, die »zarte Gleichgültigkeit« gegenüber digitalen Konventionen zu lernen.
Titelbild ©Christian Wex