[Lücken___Haft]

[Lücken___Haft]
Was würdest du ändern wollen, wenn du die Zeit zurückdrehen könntest? Denkst du, es gibt eine Gegenwart, wenn ein Moment in der Zukunft sogleich Vergangenheit wird? Und wie viele Sekunden hat eigentlich ein Tag, wenn du das Gefühl für Zeit und Raum verlierst?

von Carina Aigner

Leerstellen. Stimmen bleiben ungehört, Erinnerung verblasst. Es riecht nach Zeitungsblättern, Kerzen mit Vanille-Aroma und dem leisen Mauscheln des alten Ehepaares am Nachbartisch. Sie halten sich an den Händen, schauen sich tief in die Augen. Er sucht etwas in ihr, was schon längst nicht mehr da ist. Sie sucht etwas in sich, das schon lange verloren. Wir schauen uns an, sitzen uns gegenüber und hören die Suche nicht auf. Ich trage den Herbst in meiner Lunge, seit vielen Wintern schon. Bei jedem Atemzug höre ich die Blätter über den Schotterweg rascheln. Eins…Zwei…Drei… sie ziehen vorbei, weg. Für dich nur ein Moment, für mich die Ewigkeit. Stimmt das, oder empfindest du es umgekehrt? Und sag mal: Erinnerst du dich daran, wie wir als Kinder so häufig im Park am Ende der Straße zusammen gespielt haben? Ja? Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Nur vage, manchmal. Meine Gedanken sind ein Trümmerhaufen, ein Puzzle, das nie vollendet werden kann. Ich habe die Teile verlegt und vergessen wo sie sind. Plötzlich, vor mir erscheint ______ Gesicht. Es ist schemenhaft, keine klaren Konturen – eine Form von Zensur, an der mein Inneres erneut zerbricht. Es spiegelt mich. Den Namen vergessen, doch die Gefühle sind echt. Du siehst mich an. Ich schaue weg.

Wir stehen uns gegenüber, dann sitze ich wieder hier. Wie kann das sein, dass ich mich so in mir selbst verlier? Ich würde ______ so gerne ein paar Fragen stellen, doch kann es nicht. Ich würde so gerne wissen wollen:

Wie schmeckt die Farbe Blau für dich?

Nein, nicht dieses Königsblau, sondern viel mehr das Blau des Meeres, wenn sich die Wellen, die ans Ufer preschen nach einem Sturm wieder zur Ruhe begeben.

Und was bedeutet Poesie für dich? Ab wann beginnt Literatur und wo endet sie?

Siehst du Tod und Endlichkeit ähnlich wie Schopenhauer?

Glaubst du an einen literarischen Glitch oder sind das auch nur Fehler für dich, Lücken im System? Und hast du schon einmal Matrix gesehen?

Dann schüttelst du den Kopf und spielst mit deinem Haar. Du streichst dir mit deiner rechten Hand über den Ansatz, lässt jede Strähne dann einzeln und langsam herunterfallen. Ich beobachte dich genau. _____ Haare sind anders, sie hatten die Farbe des Ledereinbandes meines Lieblingsbuches, das ich mit 13 Jahren zum wiederholten Male gelesen habe. Den Titel weiß ich nicht mehr. Magda hat es mir damals geschenkt, glaube ich. Ich bin mir nicht sicher. Obwohl – In schnörkeligen Buchstaben stand ihr Name auf der ersten Seite, dahinter hat sie eine kleine Sonnenblume gemalt. Ich muss lächeln, als ich daran denke, dass sie nie verwelken wird. Leider hat mich niemand davor gewarnt, dass auch Bücher wie Blumen zerfallen können. Liebst du mich, oder liebst du mich nicht? Das Gänseblümchen schwieg, als ich es fragte. Seine Blütenblätter wollten mir nichts verraten. Und ich selbst wusste es nicht.

Und was sind überhaupt deine Lieblingsblumen?

Denkst du unsere Kindheit endet irgendwann? Wo fängt erwachsen sein überhaupt an?

Wann hast du gelernt, dir deine Schnürsenkel selbst zu binden?

Ob Klettverschlussschuhe mal wieder in werden?

Hast du schon einmal einen Ghibli-Film gesehen? Welchen davon mochtest du besonders gern?

Ich glaube, es gab einen Film über Krieg und Glühwürmchen, die am Ende verglühen, denn, weißt du, nichts bleibt bestehen. Auch das Leben ist nur ein vorübergehender Zustand. Stell dir vor du zerfällst und alle schauen dir dabei zu. Stell dir vor du bleibst Teil von dieser Welt, obwohl du schon längst gegangen bist. Ich hab genau gesehen, wie sehr du mich vermisst. Und ich kann auch sehen, wie du weinst, selbst, wenn ich morgen schon wieder vergessen habe, wie du heißt. Ich sehe genau, dass du mich verzweifelt suchst. Ich mache das auch schon seit einer geraumen Zeit, fühle mich dabei wie Sisyphos – in einer Endlosschleife gefangen. Ich schaue nach vorne in einen undurchsichtigen Nebel, blicke nach hinten und sehe nichts als Schwärze. Festgehalten zwischen Lücken meines Gedächtnisses. Aber sag mal:

Hast du eigentlich als Kind Glühwürmchen gefangen?

Hast du aus Stöcken und Moos einen Unterschlumpf gebaut und alle paar Tage nachgeschaut, ob er noch steht?

Und warst du gerne draußen in der Natur? Lieber Berge oder Meer, wenn du die Wahl hättest?

Was würdest du ändern wollen, wenn du die Zeit zurückdrehen könntest? Denkst du es gibt eine Gegenwart, wenn ein Moment in der Zukunft sogleich Vergangenheit wird?

Und wie viele Sekunden hat eigentlich ein Tag, wenn du das Gefühl für Zeit und Raum verlierst?

Erinnerungen fallen wie Blätter im Herbst, seit vielen Wintern schon. Wie klang nochmal ____ Stimme und welche Farbe hatten ____ Augen, wenn das Licht der Abendsonne nach einem langen Septembertag darauf schien? Bernstein? Und im Schatten Onyx? Oder doch wie Sand, der seit jeher in meinen Händen zerrinnt?

Ich erinnere mich an das Klangspiel, das auf Ma…Magdas Balkon hing. Das in ihrer alten Dreier-WG am Fleischermarkt unten. Die Treppe war alt und knarzig. Es gab keine Garantie, dass man lebend im obersten Stock ankommen würde. Zu jedem erdenklichen Zeitpunkt hätten die Dielen unter den Füßen nachgeben und man selbst verschwinden können. Ich bin mir nicht sicher, ob sie inzwischen nicht schon umgezogen ist. Vielleicht sollte ich sie mal wieder anrufen.

Ich erinnere mich an die laute Musik aus der Bar, über der ich in meinem ersten Studienjahr wohnte. Die Miete dort war erschwinglich, die Lage ganz in Ordnung. Auf der Veranda vor dem Hauseingang hingen bunte Lichter. Sie spiegelten sich in den Pfützen, die der Regen nach seinem täglichen Schauer hinterließ. Meine Geschwister haben mich immer dafür ausgelacht, wie ich nur den schönen Süden für den trüben Norden eintauschen konnte. Mir fällt ein, ich muss sie mal wieder besuchen.

Ich erinnere mich an das Dachgeschosszimmer in meinem Elternhaus, das ich mir mit Erna und Marie geteilt habe. Der Putz bröckelte schon von den Wänden. Ich stieß mir den Kopf jedes Mal, wenn ich die Stiege hinaufging. Matratzen lagen über dem Boden verteilt, es war stickig. Man konnte das Fenster nicht öffnen. Oft lagen wir bis tief in die Nacht hinein zusammengekuschelt an der Wand, erzählten uns erfundene Geschichten, während das Mondlicht, welches durch das angelaufene Fensterglas schien, unsere Nasen kitzelte. Unser Atem kondensierte. Er wurde zu tausenden von winzigen Kristallen. Wie Königinnen lebten wir in unserem eigenen Schloss, hoch über den Köpfen der anderen. Ich freue mich darauf, endlich wieder heimzukommen.

Ich erinnere mich…

Und sag mir:

Wo bin ich gelandet? In wessen Zimmer befinde ich mich?

Weißt du, wann Magdalena wieder zu Besuch kommt? Das Studium ist bestimmt anstrengend. Weißt du, wie es ihr geht?

Wer ist diese Person im Spiegel? Und wer ist diese fremde Frau in dem Sessel, hinten am Fenster? Ich habe sie noch nie gesehen. Sie nennt mich bei Namen, die mir unbekannt sind.

Warum bin ich hier? Wo sind meine Eltern? Warum haben mich Erna und Marie noch nicht besucht?

Ich vermisse sie.

Die mir unbekannte Frau steht auf und begibt sich in meine Richtung. Sie trägt eine weiße, enganliegende Hose und ein hellgrünes Hemd. Ihre Haare sind zu einem strengen Zopf zusammengebunden. Ihr Gesicht ziert ein falsches Lächeln, das über die vergangenen Jahre scheinbar gut eingeübt wurde. Sie kommt näher, ist mir zu nah. Ich erschaudere, möchte rennen, doch wüsste ich nicht wo hin. Sie nennt mich Annemarie, ich kenne sie nicht. Ich kenne auch keine Annemarie. Ich frage sie, wie es meiner Familie geht. Sie entgegnet mir, ob ich meine Tabletten heute schon genommen habe. Ich frage sie, wie es Magdalena geht. Sie fragt mich, ob ich heute schon etwas gegessen hätte. Ich frage sie, wo wir hier sind. Sie fragt mich, ob das denn jetzt schon wieder losgehe. Dabei wiederholt sie stetig den Namen Annemarie. Mit jeder weiteren Erwähnung wird mir dieser Name fremder und fremder. Ich fühle mich verloren, missverstanden, einsam. Wie ein Seemann auf dem offenen Meer steuere ich hilflos umher. Ohne Karte, ohne Kompass, ohne Orientierung – selbst die Sterne zeigen sich in tieffinsterer Nacht nicht. Die Schwärze übertönt alles. Ich frage die fremde Frau, ob sie wisse, wie es meiner Familie geht. Sie entgegnet mir, ob ich mich heute schon gewaschen habe. Ich frage sie, wie es Magdalena geht. Sie fragt mich, was ich heute anziehen möchte – den hellblauen oder doch den gelben Pullover? Ich frage sie, wo wir hier sind. Sie wirkt etwas wütend, ich weiß nicht warum. Eine Antwort bekomme ich keine. Stattdessen nimmt sie meinen Arm und führt mich zu einem Bett, Annemaries Bett, wie sie mir kurz darauf verrät – meinem Bett, wie sie weiter ausführt. Ich frage die fremde Frau, ob sie wisse, wie es meiner Familie geht. Sie entgegnet mir, ob ich mich nicht setzen wollen würde, damit ich mich für den Tag bereit machen könnte. Dabei zuckt sie leicht mit ihrem rechten Mundwinkel. Ich frage sie, wie es Magdalena geht. Sie fragt mich, ob ich meine Tabletten heute denn sicher schon genommen habe. Ihr Blick verhärtet sich. Ich frage sie, wo wir hier sind. Sie zwingt mich auf den Rand des Bettes, Annemaries Bettes, meines Bettes und wird wütend. Ich bemerke, dass ich ihr diese Fragen nicht zum ersten Mal gestellt habe. Mein Blick bewegt sich erst in Richtung Boden, dann schaue ich in den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Ich blicke in ____ Gesicht. Ich hätte so viele Fragen und doch stelle ich sie nicht.

Leerstellen. Stimmen bleiben ungehört, Erinnerung verblasst. Es riecht nach billigem Filterkaffee, dem Rattern der alten Entlüftungsanlage im Bad und dem Mittagessen, das in wenigen Minuten serviert werden würde. Ich suche etwas in mir, was schon längst nicht mehr da ist. ___ suche etwas in mir, das schon lange verloren. Ich trage den Herbst in meiner Lunge, seit vielen Wintern schon. Bei jedem Atemzug höre ich, wie mich meine Erinnerung belügt.


Titelbild: Rad Cyrus I unsplash

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