Von Schubladen und Labels
Bisexuell, schwul, lesbisch, queer, pansexuell: Noch nie gab es so viele Namen für queere Identitäten. Warum haben wir Labels und brauchen wir sie überhaupt?
von Marie Odenthal
Wir Menschen denken gerne in Schubladen. Schublade auf, Mensch rein, Schublade zu: Das ist einfach. Und es erlaubt, Personen schnell zu klassifizieren und sie damit in das eigene Weltbild einzuordnen. Besonders gerne stecken wir Menschen in klare Schubladen, die Eigenschaften haben, die uns zu fremd oder zu kompliziert sind. Zu diesen Charakteristika zählt auch heute noch jegliche Abweichung von Cis- Heteronormativität, also Queerness. Hier kommen die Labels ins Spiel, die in der LGBTQIA+- Community immer mehr Bedeutung haben. Bist du jetzt pansexuell, bisexuell, oder einfach queer? Oder vielleicht doch lesbisch? Im Idealfall für unsere schubladenorientierte Gesellschaft sollte diese Frage zu einer definitiven Antwort führen – zu einem Label eben.
Passt ein Spektrum in eine Schublade?
So eine Schublade kann aber schnell eng werden. Kann ein Wort oder eine Bezeichnung wirklich eine ganze Identität vollständig beschreiben? Liebe ist doch eigentlich zu groß, um sie in eine Form zu pressen – vor allem, weil sexuelle Orientierung ein Spektrum ist. Die sogenannte Kinsey scale, entwickelt für ein Experiment in der Mitte des letztens Jahrhunderts, gibt eine Skala von 0 (ausschließlich heterosexuell) bis 6 (ausschließlich homosexuell) vor. Das Ergebnis der primär von Alfred Kinsey durchgeführten Umfrage mit Männern war, dass etwa die Hälfte der Befragten sich irgendwo auf der Skala einordnet, bunt verteilt zwischen den Fixpunkten Hetero- und Homosexualität an den Enden der Skala also. Labels stellen oft nur einen spezifischen Punkt auf dem breiten Spektrum der sexuellen Orientierung dar. Dabei wird alles, was sich zwischen diesen Punkten bewegt – oder sogar komplett außerhalb unserer Kategorien – außen vor gelassen.
Es ist kaum verwunderlich, dass stets neue Labels innerhalb der queeren Community verwendet werden, denn die meisten Menschen sehnen sich nach einer treffenden Bezeichnung für die eigene Identität. Es stellt sich aber die Frage: Ist es ein befreiender Akt, endlich Worte für Liebe und Identität finden zu können und stolz auf die spezifischen Labels zu sein? Oder schränken wir uns damit selbst immer weiter ein und geben dem gesellschaftlichen Druck zur Klassifizierung nach?
Warum wir Labels wollen
Grundsätzlich sind Labels eine tolle Möglichkeit, sich zugehörig zu fühlen und um Gemeinschaften zu bilden. Außerdem können sie helfen, um zu sehen, dass es andere Menschen gibt, die gleich fühlen und vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Dadurch kann jungen LGBTQIA+- Menschen in ihrer Entwicklung eine Orientierungshilfe gegeben werden. Das wirkt Einsamkeit, die in der Community weit verbreitet ist, entgegen. Und es ist für viele queere Menschen auch einfach schön, stolz sagen zu können: Das bin ich!
Wichtig ist wohl der Grund für das Bedürfnis nach einem Label. Geht es da um die eigene Identität und den Wunsch nach einer Kategorie für das eigene Empfinden? Oder kommt das Bedürfnis durch Druck von außen? Wollen außenstehende Menschen ein Label haben, um eine Schublade aufmachen zu können und um sich nicht länger darum bemühen zu müssen, etwas Fremdes wirklich zu verstehen?
Bunt und individuell
Hier liegt ein weiteres Problem unserer Label- Kultur: Ein Wort wird in den Augen mancher auf einmal deckungsgleich mit der gesamten Identität, ja oft der ganzen Persönlichkeit der gelabelten Person. Eigenschaften, die in vielen Köpfen mit dem bestimmten Label verknüpft sind, werden der Person dann einfach so zugeschrieben – oftmals ohne diese überhaupt zu kennen. Beispiele dafür sind Sätze „Schwule Männer sind alle laut und feminin.“ Die Ursache dieses Missstandes ist natürlich nicht das Label selbst, sondern die Reduzierung auf dieses – dabei ist jede Identität individuell.
Im Endeffekt ist es jedem Menschen völlig selbst überlassen, ein Label zu benutzen oder eben nicht. Diese Entscheidung hat aber in jedem Fall nichts damit zu tun, wie valide die eigene Identität ist. Ob du noch nach einem passenden Begriff suchst, nie einen finden willst; ob du glaubst, dass es gar keinen passenden geben kann oder ob du dir schon ganz sicher bist: Du bist du und das verändert kein Label der Welt.
Titelbild © Marie Odenthal