Warum ich hoffe…
Langsam löst sich der Rauch, nur noch vereinzelt erleuchten Raketen den Himmel. Ich steige über Böller und Champagnerflaschen. Mit jedem Schritt legt sich die Euphorie und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkommt mich. Doch dann denke ich an sie.
von Paula Dowrtiel
Sie ist mittlerweile über neunzig – eine alte Frau. Heute sitzt sie an ihren kleinen Küchentisch und liest den Titel ihrer Zeitung: »Europa vor dem Abgrund?« Sie blickt aus dem Fenster, ihr Gesicht spiegelt sich leicht auf der Scheibe. Ihre Haare sind grau und ihre Haut ist voller Falten. Zeugen der Zeit. Manchmal erkennt sie ihr eigenes Spiegelbild nicht mehr. Alles ist anders – fast alles. Ihre Augen haben sich nicht verändert. Braun im Schatten und grün in der Sonne. Wenn sie die schließt, dann kann sie ihr altes Ich sehen. Genau wie damals, als sie sich auf den kleinen Hocker im Badezimmer gestellt und in den Spiegel geschaut hat. Ihre Haare waren zu zwei langen, braunen Zöpfen geflochten und in ihrem breiten Lächeln fehlten zwei Schneidezähne. Alte Oma, hat sie ihr großer Bruder deswegen genannt und gelacht. Heute ist sie wirklich alt und mittlerweile schon Uroma. Die Zöpfe hat sie schon lange nicht mehr und auch der Spiegel ist weg, genauso wie das Badezimmer. Beides wurde zerstört am elften Juli im Jahr 1944. Die alte Frau erinnert sich noch an diesen Tag. An die leere Stelle, wo doch wenige Stunden zuvor das große Haus mit ihrer Wohnung stand. An die schweren Tränen – ihr Puppenhaus – es war eins mit den Trümmern. An die Puppe in ihrem Arm, die jetzt genau wie sie kein Zuhause mehr hatte, und an die klebrige Hand ihres Bruders, die sie nie wieder loslassen wollte aus Angst, ihn zu verlieren. Innerhalb weniger Atemzüge hatte sie alles verloren und mit ihr tausende andere Menschen auch. Die Frau öffnet die Augen und schaut ihr altes Gesicht an. Oft denkt sie zurück an die Zeit, an den Lärm der Raketen und die Stille in ihrem Kopf, wenn die Angst all ihre Gedanken zum Schweigen brachte. In den Tagen nach dem elften Juli verloren 200.000 Menschen in ihrer Heimatstadt München ihre Wohnungen und über tausend ihr Leben. So große Zahlen und doch so klein im Verhältnis zu der Anzahl aller Menschen, die im Zweiten Weltkrieg starben. Die alte Frau blickt zurück auf die Zeitung. Europa vor dem Abgrund? Sie hat ihn schon gesehen – Europas Abgrund – und sie weiß heute wie damals, dass dieser sich nie wieder auftun darf. Die alte Frau setzt sich ihre Brille auf und beginnt zu lesen. Auf ihrem Etui klebt ein runder Sticker mit der Aufschrift: Omas gegen rechts. Die Sonnen strahlt durch das Fenster der kleinen Küche. Ihre braunen Augen schimmern hinter den dicken Brillengläsern grün. Langsam hört die Spirale in meinem Kopf auf, sich zu drehen. Ich habe Hoffnung. Ich habe Hoffnung, weil ich weiß, wie wichtig unsere Hoffnung ist. Ich habe Hoffnung, weil ich Hoffnung haben darf in einem Land ohne Krieg, in einem Land mit Demokratie. Ich habe Hoffnung auf eine Zukunft, in der wir miteinander leben, in der wir unsere Geschichte und unsere Fehler nicht vergessen und in der jeder Mensch seinen Platz finden kann.
Ich habe Hoffnung, weil sie Hoffnung hat.
Titelbild: © Paula Dowrtiel