»Familienstress«
Alle Jahre wieder: Zwischen Familientraditionen, Geschenke-Stress und hohen Erwartungen wird das Fest der Liebe schnell zum Fest der Nerven. Chaos unterm Baum, verpackt in fragilen Geduldsfäden.
Von Lea Stöbe
Weihnachten steht vor der Tür! Und damit ein Fest, dem ein vierwöchiges Spiel zwischen Besinnlichkeit und Stimmungsmacherei, duftendem Marktgetummel und Konsumwahn sowie gepflegter Tradition und Illusion vorausgeht. Während die Adventszeit meistens noch getrennt voneinander ihren Lauf nimmt, rückt mit dem 24. Dezember der Tag näher, an dem die Familien wieder vereint werden.
Weihnachten im christlichen Sinne ist das Fest der Ankunft Jesu auf Erden. Doch dabei soll es nicht bleiben! Vehement an die Türen der Häuser klopfend verkündet sich die Ankunft eines Weiteren: die des Familienstresses.
Die Vorstellung vom „perfekten“ Weihnachtsfest setzt viele Familien unter Druck. Der Wunsch, Traditionen zu wahren, Eltern und Geschwistern oder den eigenen Kindern gerecht zu werden und ein harmonisches Beisammensein zu gewährleisten, kann zu Stress und Enttäuschungen führen, wenn die Realität hinter den Erwartungen zurückbleibt.
Weihnachtsessen mit Konfliktpotenzial
Auf einmal sitzen da wieder alle in einem Raum, an einem Tisch beisammen. Völlig unterschiedliche Erlebnisse der vergangenen Wochen, abweichende Routinen, völlig verschiedene Leben und Realitäten treffen im Schein der Kerzen aufeinander. Zwischen Gänsebraten, Seitan-Ente, Rotkohl und Klößen ist Diplomatie auf höchstem Niveau gefragt. Religion, politische Überzeugungen, Rassismus, sexuelle Identitäten, Partnerwahl, Finanzen, Ernährung – die Liste könnte noch um so einige Punkte ergänzt werden.
Warum auch immer finden all diese Themen jährlich an Weihnachten in die Mitte der Runde und sorgen dafür, dass die Mitglieder der Tafel sich in die Haare kommen. Muster und Rollen in der Familiendynamik, die schon längst vergessen oder überwunden schienen, bahnen sich ihren Weg zurück in das Handeln aller. Erschrocken über sich selbst, enttäuscht oder getriggert von den anderen wird der Selbstbeherrschung auf den Zahn gefühlt.
Vorbereitungen für ein entspanntes Miteinander
Manch einer verdrängt jedes Jahr aufs Neue diese Seite des Festes und wird irgendwo zwischen dem dritten Bissen und der fünften Weihnachtskarte wieder davon eingeholt. Manch anderer bereitet sich im Voraus mental schon darauf vor. Sich Grenzen zu setzen, zu wissen, wo die eigenen Werte liegen und nach den Feiertagen sein Leben wieder unabhängig gestalten zu können, ist unfassbar hilfreich. Je mehr man in den eigenen Überzeugungen ruht, desto besser kann man womöglich auch von entgegengesetzten Aussagen Abstand nehmen.
Im Familiären Rahmen werden wir alle sehr schnell emotional. Schneller, als wir es sonst vielleicht von uns gewohnt sind. Manchmal kann selbst die beste Vorbereitung nicht die Welle an Gefühlen aufhalten, die über uns hereinbricht, wenn einen ganzen Abend oder gar mehrere Tage am Stück von allen Seiten am Geduldsfaden gezogen wurde. Und das ist keine Schande. Bevor man versucht, irgendjemand anderem gerecht zu werden, ist das beste Geschenk, das man sich an Weihnachten machen kann, sich zuallererst selbst gerecht zu werden. Zeit allein einzuplanen -ein kurzer Spaziergang oder zehn Minuten hinter verschlossener Badezimmertür- wirkt Wunder.
Aufgaben zu verteilen, ein paar Erwartungen zu senken und die Freude vielleicht mehr in den Kleinigkeiten und Einzelheiten der Feiertage zu finden, kann das Miteinander erleichtern und Weihnachten womöglich weihnachtlicher machen.
In diesem Sinne – Frohe Weihnachten (und gutes Gelingen)!
Beitragsbild ©Lea Stöbe