Die Last, jung zu sein
»Ein neuer gesellschaftlicher Rahmen, der einem sagt, wer man sein muss. Wann darf ich einfach sein?« – ein Text über die Suche junger Erwachsener nach dem eigenen Weg in einer Welt voller Vorgaben.
von Sophie Stigler
Ich sitze hier und warte. Warte auf das Ende der Erwartungen, die wie eine unsichtbare Last auf meinen Schultern liegen. Auf das Ende der Zwänge, der leeren Versprechungen, der überhöhten Ideale. »Die Zwanziger sind die besten Jahre deines Lebens«, heißt es. Ein Satz mit einer Erwartung, die diese Zeit glorifiziert wie keine andere. Man muss sie nutzen, jede Sekunde. »Du bist nur einmal jung. « Aber wofür genau? Um sich selbst zu übertreffen, um das volle Potential auszuschöpfen, das man angeblich in sich trägt?
Gefangen im Leerlauf
Die Realität fühlt sich anders an. Meine Freund:innen und ich verbringen die Tage im Stillstand, scrollend durch digitale Welten, gefangen zwischen Vergleichen und der Suche nach dem nächsten aufregenden Impuls. Alles, was wir tun, scheint zu wenig. Nicht genug Erlebnisse, nicht genug Erfolg, nicht genug wir selbst. Also leben wir falsch? Nicht so, wie man es uns vorgibt, und nicht so, wie man es von uns erwartet?
Die Stimme der Gesellschaft ist laut und widersprüchlich. »Lebendig sein« bedeutet scheinbar, immer in Bewegung zu sein. Jeder Trend, jede Party, jedes Abenteuer, einfach nur ein weiteres Häkchen auf der Liste, die beweisen soll, dass wir unsere Jugend nicht verschwenden. Wir sollen uns ausprobieren, uns selbst finden, unsere Träume verwirklichen. Doch was, wenn die Träume nicht groß genug wirken? Was, wenn die Selbstfindung nur eine neue Form der Orientierungslosigkeit ist?
Am Ende scheint es ein Spiel mit zwei Akten zu sein. Zuerst die rastlosen Jahre: ständig auf der Suche, ständig unterwegs, ständig fragend, ob es reicht. Und dann: der zweite Akt. »Mit 30 wird es ernst«, sagen sie. Ein Job, eine Familie, ein Haus, vielleicht ein Kind. Das nächste Drehbuch liegt bereit. Aber was, wenn auch dieses Leben nur eine weitere Rolle ist, die man spielen soll? Ein neuer gesellschaftlicher Rahmen, der einem sagt, wer man sein muss. Wann darf ich einfach sein?
Inszenierte Abenteuer
»Lebe deine Jugend! «, rufen sie, doch wehe, es sieht nicht aufregend genug aus. Ein Tag, an dem nichts passiert, fühlt sich wie ein verschwendeter Tag an. In einer Welt, die von Likes und Follower:innen regiert wird, zählt nur, was sichtbar ist. Abenteuer müssen festgehalten werden, Schönheit inszeniert, das Leben wie eine Kulisse gestaltet. Alles, was nicht glänzt, wird übersehen.
Und so sitze ich hier und warte. Warte auf die nächste Party, den nächsten Rausch, den nächsten Versuch, mich selbst zu definieren. Vielleicht mache ich irgendwann etwas aus mir, etwas für mich Erstrebenswertes. Doch gerade jetzt fühle ich mich gefangen zwischen Erwartungen und der ständigen Frage: Lebe ich richtig?
Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Vielleicht ist es okay, für einen Moment still zu sitzen und nachzudenken, statt zu rennen. Aber solange die Welt schreit, dass ich alles und noch mehr aus mir herausholen muss, bleibt die Frage: Was will ich wirklich? Und wann darf ich anfangen, danach zu leben?
Titelbild: © Luis Schraufl