Abject Art. Kunst oder Skandal?
»Abject Art« ist eine Waffe. Der Körper ist eine geladene Pistole. Das Ziel sind soziale, politische und persönliche Strukturen und Regeln. Du entscheidest, ob du schießt oder nicht. Es tut weh und es schadet. Dich und andere. Die Frage ist, ob der Schaden konstruktiver Art ist oder ob es einfach unnötiger Müll ist.
von Greta Kluge
»The Abject«
»Abject« als Begriff drückt den Zustand des Ab- und Ausgestoßenseins aus. Die Literaturkritikerin, Psychoanalytikerin, Schriftstellerin und Philosophin Julia Kristeva entwarf 1980 daraus in ihrem Buch »Powers of Horror« ein psychologisches, philosophisches und sprachliches Konzept. Das Abjekt bezieht sich hier primär auf die menschliche Reaktion – beispielsweise Entsetzen, Erbrechen, Ohnmacht – auf einen drohenden Bedeutungsverlust. Der wiederum durch den Verlust der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Selbst und Anderen verursacht wird. Ein prominentes Beispiel für eine solche Reaktion ist die auf eine Leiche (die uns auf traumatische Weise an unsere eigene Materialität erinnert). Aber auch andere Dinge können die gleiche Reaktion hervorrufen: eine offene Wunde, Kot, Abwasser, sogar die Haut, die sich auf der Oberfläche von warmer Milch bildet.
»Nexus Vomitus«
»Nexus Vomitus«: Millie Brown ist bewaffnet mit ihrem Körper und gefärbter Milch.
Battlefield noise: Opernarien.
Ziele: erst die Leinwand, dann die Gesellschaft.
Sie übergibt sich auf eine Leinwand und nennt es Kunst. Was sie wirklich tut ist selbst gewählte Tortur für ihren Körper. Nach einer Aussage isst zwei Tage lang nichts, um dann pure Farbe auszukotzen und ein sauberes Bild auf der Leinwand zu erzeugen. Auf eine abstruse Art sieht das Ganze perfekt und monströs schön aus, eine Devise der auch Marina Abramovic folgt: »Art must be beautiful, the artist must be beautiful«, wie auch eine von Abramovics Performances aus dem Jahr 1975 heißt.
Den eigenen Körper instrumentalisieren, eine abstoßende Sache so aussehen zu lassen, dass sie ästhetisch aussieht, um Abscheu bei anderen Menschen zu provozieren, soll Kunst sein?
Zeitgeist
Es fühlt sich surreal an Millie Brown »Nexus Vomitus« performen zu sehen. So etwas kann in einer Welt, wie der unseren einfach nicht passieren. Vor allem Frauen sind so darum bemüht Sauberkeit, Perfektion und Schönheit auszustrahlen.
Eine Louis Vuitton Show in der verletzte, geschändete Körper Hauptcharaktere sind? In einem Restaurant essen, bei dem die Kellner:innen gehäutete Hühnchen als Unterwäsche vor ihren Genitalien tragen, wie in der Fotographie »Chicken Knickers« von Sarah Lucas? Unvorstellbar.
Gesellschaft
Alles, wirklich alles was andere Menschen abstoßen könnte wird versteckt, geschieht hinter einem wohlgehüteten Vorhang. Frauen pressen sich Tampons in ihren Körper, damit niemand ihr Blut sieht. Menschen schließen mit größter Sorgfalt die Tür hinter sich, wenn sie ins Bad gehen, damit niemand das Endergebnis ihrer Verdauung sehen kann, niemand ihren nackten, zerbrechlichen, unrasierten Körper. Die Leute drehen sich weg, wenn andere weinen, kotzen, sabbern. Wir verstecken verletzte Körper. Wir verstecken Wunden, äußere und innere. Wir verstecken alles, was uns aufgrund des Gefühls wir könnten eklig, abstoßend sein, als Außenseiter fühlen lassen könnte.
Scham
Scham, ein Schlüsselwort im Bereich der »Abject art« Diese Kunstrichtung lässt uns nicht nur angeekelt dastehen, sondern spielt auch mit unserer Scham. Side Fact: »Abject art« hat einen starken femininen Kontext, was das Gefühl unbefleckt und perfekt sein zu müssen, noch interessanter macht. Der erste Impuls ist es diese Kunst zu kritisieren, abzutun für ihre komischen, skandalösen Ideen. Warum? Weil unser Sinn für Ordnung und Normalität auf den Kopf gestellt wird. Wir sind täglich mit unseren Körpern, Körperflüssigkeiten und Makeln konfrontiert, wenn eines davon aber publik wird, erobert uns die Scham.
Warum denkt ein:e Künstler:in sie habe das Recht und die Berufung so etwas, was wir, vielleicht sogar aus guten Gründen, verstecken in den öffentlichen Raum zu tragen?
Courage
Letztendlich haben sie einfach mehr Mut. »Abject Art« und die Künstler:innen, die dahinterstehen, kotzt all unsere Erwartungen aus, scheißt auf die Bemühungen dass immer alles sauber, unbefleckt sein muss, dass ein Mensch attraktiv und unwiderstehlich zu sein hat. Können wir uns nicht als Gesellschaft langsam bewusst werden, wie ermüdend es ist immer aufgerichtet, aufgebrezelt, aufgemotzt, aber immer auch verstellt zu sein?
Gegengewicht
Künstlerinnen, wie Cindy Sherman, Louise Bourgeois, Kiki Smith, Ewa Partum und Millie Brown sind das Gegenteil von femininen Ikonen, wie Nara Smith, Kim Kardashian und co., die das klassische Bild von Mutterschaft und Frausein promoten und es als das leichteste der Welt darstellen. Zwei Extreme, aber die gleichen Sorgen und Anstrengungen. Die einen verstecken, die anderen kritisieren das ständige Verstecken. Und warum zelebrieren die meisten die Einen und lehnen die Anderen so impulsiv ab?
Zurück zu Millie Brown mit ihrem perfekten Make-up, der aufwendig inszenierten Performance und dem ungewöhnlich reibungslosen Prozess des Kotzens. Sie verspottet die Menschheit für ihre Wachsamkeit und ihre Ängste im Bezug auf das, was wir als ekelerregendes Verhalten definiert haben. Sie agiert in ihrer Performance immer noch als die »perfekte Frau«, ihre Umgebung ist blitzweiß, die Arien, die die zwei Sängerinnen im Hintergrund singen, beruhigend. Durch diese Kontraste hat die Szene etwas so Unmenschliches, dass es schon wieder Sinn ergibt, dass so etwas Kunst sein soll.
Have your shit together!?
Ich habe das Gefühl es braucht »abject art« um endlich zu verstehen, wie verstrickt wir in dem Spiel sind, dauernd zu verstecken, voller Scham zu sein und in anderen Scham zu provozieren. Warum lächeln wir alle unschönen Teile unserer Gesellschaft, wie Massentierhaltung, Menschenhandlung, Rassismus und Hass nonchalant weg? Weil wir schwach sind. Und genau das wird klar, wenn man die so intensiven Reaktionen auf eine auf Leinwände kotzende Frau analysiert. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass wir in einer gewissen Weise nach Kunst, wie der von Millie Brown lechzen. Es fasziniert uns, stößt uns ab und zieht uns an, weil es Verhalten zeigt, das innere und äußere Grenzen sprengt.
Wir brauchen Körper, Menschen und Kunst als friedliche, aber geladene Waffen gegen die märchenartigen Bilder über das Leben um endlich dem immensen Druck zu entkommen immer seinen shit together zu haben.
Kunst
https://www.tate.org.uk/art/art-terms/a/abject-art
https://www.showstudio.com/projects/nexus_vomitus/performance_film
Titelbild ©Greta Kluge