Manifest einer Ethik des Genießens
Alles ist gleich schön. Alles ist romantisch, alles ist entzückend. Selbst das Hässliche und Groteske sind von der Lust getrieben, anders sein zu wollen, vom Verlangen nach Kontrasten, angezogen vom Reiz des Marginalen.
von Johannes F. Schiller
Alles ist gleich schön. Alles ist romantisch, alles ist entzückend. Selbst das Hässliche und Groteske sind von der Lust getrieben, anders sein zu wollen, vom Verlangen nach Kontrasten, angezogen vom Reiz des Marginalen. Die Ränder des gesellschaftlichen Verfalls müssen das intellektuelle Spiel eines anderen sein. Wenn Kunst wirklich ‚künstlich‘ bedeutet, erlaubt mir die Theatralität meiner gelebten Erfahrung, Schönheit an den alltäglichsten Orten zu finden. Nur meine Art, Schönheit wahrzunehmen, hält sich nicht an Grenzen, an Normen des akzeptierten Geschmacks. Meine ist buchstäblich erworben. Sie markiert den »Sieg der Ästhetik über die Moral, der Ironie über die Tragödie« (Susan Sontag).
Wenn wir das erst begriffen haben, müssen wir übergehen zur Ausweitung des Schönheits-Begriffs hin zur vollständigen ästhetischen Existenz, die alles aus diesem Blickwinkel betrachtet, dem den Dingen innewohnenden ästhetischen Wert. Erst wenn das Leben selbst von der Kunst ununterscheidbar geworden ist, dürfen auch das Leid und Elend der Welt in dem Maße ästhetisiert werden, dass sie aus einer Position ironischer Distanz genossen werden können. Wer Ethik und Ästhetik bislang nicht vereinen konnte, muss sich dem Genuss hingeben, der wider Erwarten ein moralisches Abwägen beeinträchtigen wird.
Zu sehr beschränkt sich der Mensch auf seine Position als moralisches Wesen in der Welt und verkennt dabei, dass Moral kein universell Angeborenes darstellt. Individuelles Glück kann nur von einer unseriösen, dem Leben trotzenden Persönlichkeit ausgehen, die gelernt hat, das Vergnügen als oberste, ja transzendentalste aller Empfindungen anzuerkennen. Dies führt mich vorbei an der absurden und der nihilistischen Seinsweise, die ähnliche Argumentationen anbringen, aber doch im Wesentlichen zu anderen Ergebnissen und Handlungs-Imperativen führen.
Mir geht es aber gerade um die höchsten Empfindungen, denen sich der Mensch Zeit seines Lebens nicht verwehren sollte. Nicht dem höhnisch-triumphalen Lachen des Absurdisten, der die sinnbefreite Existenz scheinbar durchschaut hat, sondern dem schöngeistigen Delektieren am Obszönen, kulturell Verschmähten und Verworfenen. Wie sagte einst ein befreundeter Kollege des Autors, dessen Name hier zur Sicherheit anonym bleiben muss:
Das Schöne und das Hässliche – Unvereinbar?
»Empfinde die höchste Lust am Verfließen, vergehe im Windhauch sublimer Erotik. Nichts bereitet mehr Freude, mehr rauschhafte Entrückung als bis zur Selbstaufgabe getriebene Gottesfurcht. Stelle dich den Haltungen, die sich derlei kümmerlichen Gestalten anbieten mögen. Allein deine Sinneserkenntnis soll dich leiten auf den Pfaden des Schönen, die die Hässlichen nicht in Abrede stellen dürfen.«
Sind es nicht die Kontraste, die das Leben lebenswert machen? Der italienische Populärkitsch rund um manierierte Jesus-Darstellungen in als ‚heilig‘ erklärten, baufälligen Grottenarealen, der homosexuelle Mann als Paradox – und potenzielles Heilmittel – der angeblich aufgeklärten, westlichen Zivilisation, die höchste Ausformung ‚qualitativer Besonderung‘ des Geschmacks im urbanen Sozialraum, der Sündenfall vor der Erlösung der Sünden, die Bibel als Meisterwerk des Magischen Realismus (nicht etwa als Tatsachenbericht oder welterzeugendes Traktat, wie manche bemitleidenswerte Köpfe zu predigen versuchen), phantastische Prosa, Bataille und Artaud, Dušan Makavejev, lateinamerikanische Nonnen in religiöser Ekstase, uneigentliches Sprechen, welches das Gegenteil des Gesprochenen meint usw.
Schönheit im ‚Hässlichen‘, oder besser: die Schönheit des Hässlichen verspricht den lang ersehnten Ausweg aus der Krise des Geschmacks zu schaffen – ein ‚neues‘ ästhetisches Prinzip, welches im Grunde doch ein altes darstellt. Die Sensibilität für eine ‚negative‘ Form von Lust ist eine utopische Gegenkultur mit bislang nur wenigen Anhänger:innen. Sie befriedigt sowohl das Verlangen nach intellektuellem Abenteuertum wie nach primitivem Amüsement. Sie ist grundsätzlich politisch subversiv und stellt sich gegen jede Form des otherings, gegen Diskriminierung und Ausgrenzung, gegen das Projekt der Re-Traditionalisierung des Lebens hinsichtlich normierter Wertvorstellungen.
Das Leben quillt über vor bizarr-verschämter Schönheit, die nicht immer als solche erkannt wird. Das mag das Zufällige sein, doch manchmal scheint die Natur sich so einzurichten, dass sie die Kunst nachahmt, nicht umgekehrt (anti-mimesis in ,the decay of lying´). In erster Linie ist das Leben eine ästhetische Erfahrung, eine Erfahrung seines Kunstgehalts und seiner Künstlichkeit: Wenn das Unbekannte in das Bekannte fällt, das Unerwartete in die habituellen Praktiken des banalen Alltags Einzug findet.
Wieso sollten wir uns also diesem unmissverständlichen ‚call to action‘ widersetzen? Nur eine gezielte Ethik des Genießens kann hier Abhilfe schaffen und uns vor unserem grausamen Schicksal, der Misere der Monotonie und des Todes erretten. Erst im Genuss gelangt der Körper zu seinen Höchstleistungen, erst der Genuss der Dinge vermag ein legitimes Urteil zu fällen, ein Bollwerk schaffen gegen die Massifizierung des Geschmackes und wertlos rationalisierbarer Sehweisen, die uns die Kulturindustrie vorlebt. Lasst uns den Geschmack wieder politisch denken!
Titelbild: © Johannes F. Schiller