Schattenwandler – ein modernes Märchen

Schattenwandler – ein modernes Märchen
Schattenwandler. Er ließ die Frauen schneller gehen. Er ließ sie mit verschränkten Beinen und mit gesenkten Blicken stehen. Sich nachts nach allen Seiten drehen, um seinen Schatten früh zu sehen.

von Ida Müermann

Trigger-Warnung: sexualisierte Gewalt

Es war einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit …

Ehrlich gesagt: Es ist einmal. Also jetzt, genau zu dieser Zeit.

Ein Geist, verzerrt, von verschwommener Gestalt, wie ein Schatten der Gesellschaft. Schattenwandler nannten sie ihn, oder nennen sie ihn, weil er seine Form so stetig wandelte.

Nie ganz greifbar

Nie ganz klar

Aber spürbar für sie – nicht für ihn.

Schattenwandler:

Er ließ die Frauen schneller gehen.

Er ließ sie mit verschränkten Beinen

Und mit gesenkten Blicken stehen.

Sich nachts nach allen Seiten drehen

Um seinen Schatten früh zu sehen.

Jede kannte Schattenwandler oder kannte jemanden der ihn kannte, aber er blieb ein Schatten, verschwommen in der Erinnerung, ein Geist ohne Gestalt und ohne Gesicht. Man konnte nichts über ihn festhalten, außer, dass ihn nur die Frauen sahen.

Sie sahen, oder

Sie sehen ihn

In jedem viel zu langen Blick auf ihren fremd bestimmten Körpern

In jeder dicht gedrängten Menge zwischen viel zu fremden Menschen

In jeder viel zu dunklen Straße und in jeder fremden Gasse

In jedem lauten Pfiff und jedem Ruf von fremden Stimmen

In jedem aufgedrängten Spruch von fremden Männern

In jeden fremden Lippen die sich ungefragt auf Münder drücken.

Doch Schattenwandler ist gewitzt, sich nur in Fremden zeigen? Das ist dem Schatten viel zu schlicht. Dort, wo ihn keiner ahnt, kann es sein, dass er plötzlich neben dir sitzt: Mit vertrautem Gesicht.

Es ist einmal, oder

es war einmal

ein Mädchen mit Vertrauen.

Ich kannte deine Blicke, deine Stimme

Dachte, du bist mein Fels in der Menge

Und mein Licht für dunkle Spaziergänge.

Doch nicht im dunklen wandeln sich Gesichter zu Schatten, nein, einfach so am helllichten Tag.

Ich sage nein und Du sagst ja, mein Nein zum Ja, dein Gesicht zum Schatten und meins voller Tränen.

Mein Wort heißt Nein, hörst du nicht?

Zauberwort? Von Zauber kann hier keine Rede sein.

Ich sage nein und du denkst ja, und um mein nein zum ja zu biegen helfen kleine Zaubertränke.

Kleine Tropfen, große Wirkung.

Zaubertrank? Von Zauber kann hier keine Rede sein.

Ich sage nein und du lachst ja, und sagst ich bin nur zu betrunken für mein ja. Alles wird dunkel in mir, wie von Zauberhand. Mein Körper reglos und deiner macht, was er will.

Zauberhand? Von Zauber kann hier keine Rede sein.

Du hast dich gewandelt in einen Schatten und mein Licht genommen.

Als ich wieder wach werde, ist der ganze Spuk vorbei.

Also fast, in mir ist jetzt nur noch Spuk,

da ist Schatten, da ist Wut.

Aber vor allem ist da Leere, wo vorher das Vertrauen war.

Das Gefühl, dich zu kennen, die Liebe und der Schutz.

Alles liegt in Scherben und ich im Schmutz.

Der Schattenwandler hat meine Seele gefressen.

Schattenwandler – ich bin zu alt für deine Märchen. Ich sage, es reicht, die Geisterstunde ist vorbei!

Nur ja heißt ja.

Jedes Märchen braucht ein Happy End. Ich kann mir keins mehr vorstellen, mein Happy End ist gestorben. Es liegt begraben unter einem Nein, dass gewandelt wurde und gebogen mit Gewalt.

Also ohne Happy End, aber trotzdem:

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann…

wird es höchste Zeit, den Schattenwandler endlich zu begraben.


Beitragsbild: © Ida Müermann

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