Therapeutic Night Drives

Therapeutic Night Drives

Es ist dunkel draußen, nicht viel los auf den Straßen. Keine Hektik, nur gleichmäßig vorbeiziehende Lichter. Lange, nächtliche Autofahrten haben eine so einzigartig beruhigende Wirkung, dass sie Stilmittel in unzähligen Songs wurden und online sogar eine Bezeichnung bekommen haben: Therapeutic Night Drive. Wie schafft es eine komplexe Aktivität, uns besser zur Ruhe zu bringen als unser Sofa? Welche psychologischen Mechanismen wirken beim Autofahren?

Von Theresa Lilly

Autofahren ist harte Arbeit für das Gehirn. Visuelle Stimuli kommen aus verschiedenen Richtungen: durch die Frontscheibe sind Hinweise auf den Straßenverlauf sowie Lichter anderer Fahrzeuge zu sehen. Eventuell tauchen auch Autos im Rückspiegel auf und die Seitenränder der Fahrbahn müssen in Bezug auf Wildwechsel oder ähnliche Gefahren im Blick behalten werden. Zu diesen visuellen Reizen kommen noch auditorische und haptische Sinneseindrücke. Auf ihrer Grundlage müssen minütlich kleine Entscheidungen zum weiteren Fahrverhalten getroffen werden. Dennoch, trotz oder gerade wegen dieser kognitiven Beanspruchung, kommen wir zur Ruhe und ordnen unsere Gedanken. Beim Autofahren entspannen wir, denken freier, distanzieren uns von der Welt und finden zu uns selbst. Aus der psychologischen Forschung zur Wirkung unterschiedlicher Transportmittel sind die Mechanismen bekannt, die das Erlebnis beim Autofahren ausmachen. Einige davon erklären auch das Phänomen des Therapeutic Night Drives.

Kokon

Der Autoinnenraum ist ein sicherer, beschützter Ort. Das Auto ist eine private Kapsel, die durch die Klimaanlage in die persönliche Idealtemperatur gebracht wird. Uneingeladen kann niemand in diese kleine, abgeschirmte Welt eindringen. Das unaufhörliche Prasseln von Reizen aus dem Internet wird zum Schweigen gebracht, Informationen aus der Außenwelt kommen nur reduziert und abgedämpft bis ins Innere des Autos durch. Geräusche von außen sind noch hörbar, aber leiser. Dasselbe gilt in die andere Richtung. Die eigene Musik, Weinen, Lachen und Singen dringen nicht nach draußen. Man ist beinah unsichtbar, nur das Fahrzeug wird gesehen. Andere Verkehrsteilnehmer bleiben anonym und Momente mit Sichtkontakt sind sehr kurz. Nur selten hat man im Alltag so viel Privatsphäre. Es ist der ideale Ort, um ungestört nachdenken zu können, niemandem genügen zu müssen.

Symmetrie

Evolutionär bedingt empfinden Menschen Orte als besonders angenehm, die sowohl Schutz bieten als auch weite Sicht über die Landschaft ermöglichen. Gute Architektur setzt beides um, viele Gebäude sind so geschnitten, dass freie Sichtachsen, aber gleichzeitig auch geschützte Bereiche und Rückzugsorte entstehen. Würde ein Auto nur diese beiden Aspekte erfüllen, wäre es also noch nichts Besonderes. Beim Auto kommt jedoch noch die Bewegung dazu. Und das verstärkt die Wirkung erheblich.
Die Welt verändert sich kontinuierlich um das Fahrzeug herum und ist in alle Richtungen grenzenlos. Man ist Teil der Szene, erlebt die Landschaft, ist in Verbindung mit ihr. Hinter dem Steuer befindet man sich im Zentrum des Geschehens. Die Blickachse ist in Fahrtrichtung, die Fahrspur schneidet die Umgebung mittig in zwei Teile und diese ziehen im selben Tempo symmetrisch links und rechts am Fahrzeug vorbei. Bei konstanter Geschwindigkeit wird die Fahrt zu einem gleichmäßigen Dahingleiten. Anspannungen lösen sich und die Gedanken können wandern.

Abschalten

Während unseres ganzen Lebens macht unser Gehirn keine Pause. Es sind immer Verarbeitungs- und Assoziationsprozesse aktiv. Dem Gehirn regelmäßig eine Ruhephase im wachen Zustand zu gönnen ist dennoch förderlich. In Momenten ohne relevante Sinneseindrücke, wenn man über nichts Konkretes nachdenkt, schaltet das Gehirn in den Ruhemodus. Auf den ersten Blick erscheint Autofahren dafür ungeeignet. Immerhin ist in entscheidenden Momenten Konzentration überlebensnotwendig und deshalb jede Form von Ablenkung gesetzlich verboten. Ist zuhause im Wohnzimmer oder als Fahrgast im Bus nicht der bessere Ort für Tagträumereien? Ehrlich gesagt, für die meisten Menschen nicht. Wer sich nicht bewusst das Ziel setzt, sich Pausen zum Verarbeiten zu geben, ist in Bus und Bahn immer in Versuchung, sich von Handy, Laptop oder Hörbuch beschäftigen und ablenken zu lassen. Zuhause angekommen sind die Ablenkungen dann noch zahlreicher.

Wer dagegen Auto fährt, hat keinen Druck nebenher verfügbar oder produktiv zu sein. Autofahrer erleben den seltenen Luxus, nicht auf Nachrichten antworten zu müssen und keine Erledigungen nebenbei abhaken zu können. Ganz im Gegenteil, sie sind ungestört ganz allein mit sich selbst. Bei nächtlichen Autofahrten klappt es deshalb so gut, seine Gedanken schweifen zu lassen, weil ausnahmsweise wirklich nur eine einzige Aktivität ausgeführt werden darf und diese zum Großteil automatisch abläuft. Das verschafft dem Gehirn Zeit, um sich zu ordnen. Es hilft uns außerdem beim Entspannen, dass unsere Sinne sanft angeregt werden. Man hört das stetige Brummen des Motors und sieht die Landschaft in verschwommenen Schatten vorbeiziehen, fühlt das Lenkrad und minimale Vibrationen von den Explosionen im Motor. Das wirkt beruhigend, in etwa so wie Regen am Fenster, und verhindert ein Stück weit das Aufkommen von Langeweile.
Sollte dann doch eine potenziell gefährliche Situation auftreten, schaltet das Gehirn blitzschnell zurück in den Aufmerksamkeitsmodus. Nachdenken ist also keine Gefahr für den Straßenverkehr.
Worüber Menschen beim entspannten Autofahren nachdenken, können wir sehr gut bei uns selbst beobachten. Oft beschäftigen wir uns mit Erinnerungen oder analysieren vergangene Interaktionen mit anderen Menschen, machen uns dabei insbesondere Gedanken über deren Perspektive. Sehr häufig finden außerdem Selbstaufmerksamkeitsprozesse statt. Das Gehirn denkt über die eigene Person nach, über eigene Vorlieben, Werte, Gefühle und Wünsche. Dass wir Zeit zum Reflektieren finden, erklärt, warum Autofahren beim Problemlösen helfen kann.

Selbstwirksamkeit

Hinter dem Steuer fühlt man sich stark, immerhin lenkt man allein die Kraft von vielen PS und ein bis zwei Tonnen Gewicht. Der Fahrspaß nimmt zu, je präziser die große Maschine auf Einwirkungen reagiert. Ist das Fahren einmal automatisiert, hat man weniger das Gefühl, man gebe einer Maschine Befehle, sondern vielmehr, dass das Auto die Erweiterung des Körpers wird. Man fährt eine Kurve, weil man eine Kurve fahren möchte, nicht, weil man das Lenkrad gedreht hat. Das Gefühl, kompetent und in Kontrolle zu sein, macht Spaß. Das Auto schafft außerdem eine Reichweite, die weit über die eigenen körperlichen Möglichkeiten hinaus geht, in alle Himmelsrichtungen. Insbesondere junge Erwachsene, die erst frisch den Führerschein haben, erleben das Gefühl der Selbstständigkeit und unendlichen Möglichkeiten, sich auszuleben.

Bedingungen

Autofahren beruhigt, macht Spaß und tut insgesamt gut. Diese Effekte treten allerdings nur auf, wenn die richtigen Bedingungen herrschen. Die Straßensituation kann man kaum kontrollieren, dafür aber die Situation im Auto. Falls man unbedingt etwas anhören möchte, ist Musik besser geeignet als ein Hörbuch oder Podcast. Für Anrufe erreichbar zu sein ist sicher oft sinnvoll, aber Benachrichtigungen sollten stumm geschaltet sein. Wenn man das Gefühl bekommt, ganz allein unterwegs zu sein, funktioniert es.

Disclaimer: Wer sehr aufgewühlt ist, sollte nicht hinters Steuer. Ein Kompromiss ist dann vielleicht ein Therapeutic Night Drive als Beifahrer:in


Beitragsbild: Theresa Lilly

Für Interessierte:
Dick, M. (2002). Auf den Spuren der Motive, Auto zu fahren. Die Perspektive der Fahrenden. Verkehrszeichen , 18 (4), 9-16
https://newsroom.porsche.com/de/2020/szene-passion/porsche-cayenne-turbo-s-e-hybrid-professorin-lynne-pearce-psychologie-des-autofahrens-22742.html
https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/das-auto-als-zuhause-1842/

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