Das tut weh! Wiegen Verluste wirklich immer mehr als Gewinne?

Das tut weh! Wiegen Verluste wirklich immer mehr als Gewinne?

Wer etwas verliert, erfährt mehr Schmerz, als sich jemand über einen gleichwertigen Gewinn freuen kann. Der Mensch handelt lieber sicher als riskant – oder? Diese Annahme klingt logisch und wurde 1979 von Daniel Kahneman und Amos Tversky in eine nobelpreisträgte Theorie gegossen. In den letzten Jahren wurde die Theorie jedoch mehrfach in Frage gestellt. Wem sollen wir in der Debatte vertrauen? Eine David-gegen-Goliath-Debatte um die Frage, wie wir Entscheidungen treffen, entfaltet sich.

Von Christian Wex

Die Prospect Theory von Kahneman und Tversky (1979) revolutionierte das Verständnis menschlicher Entscheidungsfindung unter Risiko. Zentraler Bestandteil der Theorie ist die Beobachtung, dass Verluste etwa doppelt so stark gewichtet werden wie gleichwertige Gewinne. So fordern beispielsweise Verkäufer in einer bildlichen Studie ungefähr doppelt so viel Geld für eine Tasse ein, wie Käufer bereit sind zu bieten.

Ebenso beobachten die beiden Wissenschaftler, dass Personen riskante Entscheidungen als gefährlicher einschätzen, als sie tatsächlich sind. Einfach gesagt: Nach Kahneman und Tversky lehnen Personen einen Münzwurf ab, bei dem sie 1.000 € gewinnen oder verlieren könnten, obwohl das erwartete Ergebnis eines solchen Wurfes mathematisch null ist (Berechnung: -1.000 € × 0,5 + 1.000 € × 0,5 = 0). „Das Risiko ist einfach zu groß.“

Im Alltag erklärt dieses Prinzip zahlreiche Verhaltensmuster, wie zum Beispiel die Zurückhaltung bei Investitionen, das Konsumverhalten oder die Berufswahl.

Kritik und Debatte um Verlust- und Risikoaversion

Trotz der stimmigen Herleitung und weiten Verbreitung der Theorie steht sie nicht ohne Kritik da. Gal und Rucker (2018) prüften Verlust- und Risikoaversion in unterschiedlichen Kontexten, um die Tragfähigkeit der Theorie zu testen. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass beide Konzepte kontextabhängiger sind als ursprünglich angenommen. Sie argumentieren, dass situative Faktoren wie die Wahrnehmung von Kontrolle und die spezifische Entscheidungssituation die Ausprägung von Verlust- und Risikoaversion signifikant beeinflussen können. Statt den oben genannten Münzwurf prinzipiell abzulehnen, hängt die Entscheidung unter anderem von der zu verlierenden oder gewinnenden Summe und den möglichen Handlungsalternativen ab.

Diese Kritik wird durch einen detaillierten Blick auf die methodische Güte der Prospect Theory ergänzt. Yechiam (2019) beispielsweise analysiert verschiedene Studien und zeigt, dass die gemessenen Effekte durch methodische Unterschiede und kulturelle Variationen verzerrt sein könnten. Zukünftige Forschungen müssten verstärkt die Kontextabhängigkeit und die individuellen Unterschiede in der Wahrnehmung von Verlusten und Risiken berücksichtigen.

Obwohl die Prospect Theory berechtigte Kritik erfährt, wird diese bislang nur oberflächlich im populärwissenschaftlichen Diskurs behandelt und stößt, wie Simonson und Kivetz (2018) feststellen, auf Blockaden im Wissenschaftsbetrieb.

Allgemeine Debatte um psychologische Forschung

Ein Blick auf die Kritik an Kahneman und Tversky gibt Einblick in übergreifende Probleme der psychologischen Forschung. Historisch wurde ein großer Teil psychologischer Theorien in westlich geprägten Ländern entwickelt und getestet, dennoch wird oft eine universelle Gültigkeit – auch für andere Kulturen – angenommen. Eine kritische Betrachtung steht für viele Forschungsergebnisse noch aus, wird aber heute zunehmend offen angesprochen. Das Forschungsfeld der kulturvergleichenden Psychologie stellt sich dieser Problematik und untersucht gezielt, wie sich Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft in ihrem Erleben und Handeln unterscheiden.

Zudem zeigt sich ein eingeschlafener Forschungsdiskurs, der oft in etablierten Paradigmen verharrt und innovative, interkulturelle oder interdisziplinäre Ansätze vernachlässigt. Der immense Druck, ständig neue und signifikante Ergebnisse zu veröffentlichen, fördert eine Publikationskultur, die oft auf Quantität statt Qualität setzt. Dies kann zu einer Verzerrung führen, bei der nur positive oder unterstützende Befunde bevorzugt werden, während widersprüchliche oder nicht signifikante Ergebnisse vernachlässigt werden.

Fazit

Verlust- und Risikoaversion bleiben zentrale Konzepte im populärwissenschaftlichen Diskurs, stehen jedoch vor wachsenden Herausforderungen durch kritische Studien und neue Forschungsergebnisse. Die Diskussion um ihre Validität unterstreicht die Komplexität menschlichen Entscheidungsverhaltens und die Notwendigkeit, theoretische Annahmen ständig zu überprüfen. Wie im gesamten Forschungsbetrieb ist ein tieferes Verständnis von Kontextabhängigkeit und individuellen Unterschieden erforderlich. Kritische und sorgfältige Forschung wird entscheidend sein, um ein umfassendes und ganzheitliches Bild unseres Verhaltens zeichnen zu können.

Beitragsbild: Christian Wex

Für Interessierte:

Gal, D., & Rucker, D. D. (2018). The Loss of Loss Aversion: Will It Loom Larger Than Its Gain? Journal of Consumer Psychology, 28(3), 497–516. https://doi.org/10.1002/jcpy.1047

Kahneman, D., & Tversky, A. (1979). Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk. Econometrica, 47(2), 263–291. https://doi.org/10.2307/1914185

Simonson, I., & Kivetz, R. (2018). Bringing (Contingent) Loss Aversion Down to Earth—A Comment on Gal & Rucker’s Rejection of “Losses Loom Larger Than Gains”. Journal of Consumer Psychology, 28(3), 517–522. https://doi.org/10.1002/jcpy.1046

Yechiam, E. (2019). Acceptable losses: The debatable origins of loss aversion. Psychological Research, 83(7), 1327–1339. https://doi.org/10.1007/s00426-018-1013-8

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert