Schreibwerkstatt: »Stell dir vor«
Ein Text zum Thema »(Un-)Ausgesprochen« der Printausgabe 37 der Lautschrift, verfasst im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.
von Maximilian Hasenöhrl
Stell dir vor, tausende Menschen starren dich an, erwarten Höchstleistung von dir, während du darüber grübelst, wie du diese wichtige Klausur morgen bestehen und danach eine Wohnungsbesichtigung meistern sollst, auf die sich Minimum zehn Menschen beworben haben. Unruhig wäre ein zu ruhiges Wort dafür. Stell dir vor, dieses Gefühl wird von deinem Gehirn immer wieder und wieder und wieder abgespielt. Beim Aufstehen, in der Uni, beim gemütlichen Bierchen am Abend und bevor du einschläfst. Stell dir vor, jeder Moment deines Lebens wird davon beeinflusst, wie du Panik und Angst vor allen möglichen Dingen entwickelst, vor schönen und traurigen, neuen und alten. Es fühlt sich an, als würden tausende kleine Ameisen unter der Haut meiner Oberschenkel krabbeln. Sie wühlen sich langsam über meine Leistengegend zu meinem Bauch hin und sorgen für ein unnachgiebiges Drücken, was jedes Hungergefühl löscht. Ich versinke in einem zähen Morast aus der konstruierten Sicherheit meiner Wohnung, meinen immer gleichen Routinen und den immer gleichen Serien. Wenn ich fürs Studium zeitweise diesen widerlich warmen Sumpf verlasse, würde niemand auch nur im Entferntesten vermuten, wie ich die Realität in meinem Kopf in einen schleimigen, dunkelgrünen Horror tauche, der mich immer dann in den Arsch tritt, wenn ich gerade beginne, mein Cortisollevel sinken zu lassen. Ich fühle mich wie Prometheus, der jeden Tag von innen aufgefressen wird und doch niemals ausgeweidet wird.
Die Realität entzweit sich in einer Wahrnehmung des Äußeren und das Empfinden nach innen. Dazwischen liegt dieser verzerrende, knallrote Filter mit den spitzen Zähnen und den gruselig grellen Augen, durch welchen all die Eindrücke und Erlebnisse gequetscht werden, bis sie völlig verstümmelt und beängstigend in meinem Kopf ankommen. Mit großer Mühe versuche ich die Bilder zu decodieren, während meine Oberschenkel, mein Brustbereich und mein Magen weiterhin von diesen quälenden Ameisen zerfressen werden. Schwieriges Setting, um einen kühlen Kopf zu bewahren, nicht wahr? Jeden Tag ebbt ein Bruchteil dieses Adrenalinmeeres ab, bis ich nach vielen Wochen einmal am Strand gefühlter Sicherheit spazieren gehen kann, immer abwartend, bis eine plötzliche Sintflut meine löchrigen Dämme erneut sprengt und ich den Schaden erneut beheben darf.
Doch die Dämme werden dicker. Der Filter verliert seine spitzen Zähne und die Ameisen suchen sich andere Nistplätze. Es ist so kräftezehrend und mühselig, diese Kämpfe jeden Tag zu führen, aber am Ende jeden Tages ist diese Hoffnung. Die Neugierde, wie die Welt aussieht, wenn sie diesen Filter nicht passieren muss. Ich befinde mich auf einer Reise zu meinem wahren Ich, frei von Angst. Ich bin noch nicht dort, wo ich hin will, doch glücklich, nicht mehr da zu sein, wo ich einst war.
Beitragsbild: Hans I pixabay