Schreibwerkstatt: »Ich«
Ein Text zum Thema »(Un-)Ausgesprochen« der Printausgabe 37 der Lautschrift, verfasst im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.
von Patrick Graf
Vor mir hängt ein Spiegel und in ebendiesem erblicke ich eine gar hässliche Person. Genauso verachtend, wie meine Augen auf das Spiegelbild fixiert sind, blickt es auf mich zurück. Die langweiligen Augen wandern über das Gesicht. Auf meiner Stirn befindet sich ein Pickel, der vermutlich morgen bereit sein wird, um ausgedrückt zu werden. Bis dahin ist es seine Lebensaufgabe von der Hairline abzulenken, die sich immer weiter zurückzieht. Schaut man durch die alten Fotoalben der Familie stellt man fest, dass der Dank dafür wohl meinem Vater gebührt. Ebenso wie der Dank für meinen fragwürdigen Bartwuchs, so braucht doch jeder 3-Tage-Bart mindestens eine Woche, um zu wachsen und ist selbst dann löchrig und lückenhaft. Immerhin gelingt es damit, die Aufmerksamkeit etwas vom Mund wegzuziehen, und so den trockenen Lippen die Aufgabe meine schiefen Zähne zu bedecken, etwas zu erleichtern.
Auch wenn man das Gesicht verlässt und beginnt sich auf den Rest des Körpers zu konzentrieren, wird man keine Schönheit finden. Muskeln sucht man vergebens, das einzige Merkliche, was es zu entdecken gibt ist der Fettanbau in der Bauchregion, mit dem man gefühlt eine ganze Familie für ein Jahr lang ernähren könnte. Ich wünschte wirklich, mein Körper würde die Kalorien direkt wieder rauswerfen wie ich meinen Monatslohn. Geziert wird das speckige Gebirge von dichtem Steppengras, weil mein erblich bedingter Haarausfall all seine Kraft auf den Kopf fokussiert und sich gar weigert, an Stellen wo es mich nicht stören würde, auch nur ein bisschen Wirkung zu zeigen. Aber alles, was hier sichtlich einwirkt, scheint noch der Big Mac von gestern Abend zu sein.
Mein Spiegelbild und ich treten beide einen Schritt zurück, betrachten das Gesamtergebnis der Analyse vor uns. Das Resultat ist, dass wir eigentlich keine Lust haben, heute Abend noch feiern zu gehen. Allerdings entspricht dieses Denken einer Wunschvorstellung, die Wahrheit besagt, dass wir Lust haben müssen. Dass es ganz gleich ist, in welchem »State-Of-Mind« wir uns befinden, weil wir uns als Männer nicht schlecht fühlen dürfen für unser Aussehen, sondern unabhängig von unserer Lebenslage vor Selbstvertrauen strotzen sollen. Die Nachricht, dass auch wir unter hirnrissigen Schönheitsidealen leiden, scheint noch nicht überall angekommen zu sein. Der Anruf, in dem klargestellt wird, dass wir genauso an uns selbst verzweifeln können, muss bei vielen Leuten noch ungehört auf der Mailbox liegen. Mit aller Kraft ziehe ich die Mundwinkel nach oben, um meinen leeren Gesichtsausdruck nicht zeigen zu müssen. Ich ziehe mein Hemd an und verlasse meine Wohnung, bereit der Welt einmal mehr einen »Mister Perfect« zu präsentieren, den es doch eigentlich gar nicht gibt.
Beitragsbild: Simedblack I pixabay