Schreibwerkstatt: »Freigelegt«
Ein Text zum Thema »(Un-)Ausgesprochen« der Printausgabe 37 der Lautschrift, verfasst im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.
von Anonym
Nervös tipple ich mit den Spitzen meiner runtergerockten Chucks unter der Sitzfläche. Der wie-
vielten Besprechung ich hier beiwohne weiß ich nicht. Als es zweistellig wurde habe ich das Zählen aufgehört. Die durchgesessenen Polster des Stuhls erkennen mich mittlerweile mittels Arsch-ID und nehmen mich dankbar in sich auf. Ich bin einer von euch, so wie ihr Teil von vielen seid.
Absoluter Durchschnitt. Unauffällig. Eine Nuance Anthrazit im Grau der Masse. Die Stimme meines Gegenübers dringt nur dumpf an meine hermetisch abgeriegelte Schutzhülle heran, verhallt dann in der Ferne. Ich schenke ihr keine Beachtung, halte den Blick weiterhin gesenkt und starre auf die zusammengefalteten Hände in meinem Schoß. Auf die vernarbten Kuppen meiner Finger. Zerkaut wie ein Hundeknochen. Dermatillomanie nennt das die Medizin. Mein Blick bleibt aneinem kleinen Hautfitzel hängen, der widerspenstig von meinem linken Zeigefinger absteht.
Ich versuche ihm weiter keine Beachtung zu schenken, doch der Störfaktor drängt sich immer mehr ins Bewusstsein. So sehr, dass ich vorsichtig mit den Zähnen daran knabbere. Nur abbeißen, nicht ziehen.
Anette
In dem Moment als der Name meiner Mutter erklingt und meine Glieder als kalter Schauer durchfährt, bekomme ich den Hautfitzel an meinem Finger zu fassen. Erschrocken fahre ich zusammen und ziehe ruckartig daran. Ein stechender Schmerz seitlich in der Nagelhaut, doch ich ziehe unbeirrt weiter. Aus dem Fitzel wird ein Fetzen, ein Strang. Ich reiße weiter, weiter, weiter. Wie die Schale eines Apfels pellt sich meine Haut und enthüllt so mein tiefstes Inneres.
Die bisherigen Gespräche behandelten belanglose Themen, waren hohle Phrasen und genauso tiefgründig wie die Kalendersprüche an der Wand hinter dem Schreibtisch. Doch dieser eine Name ändert das alles mit einem Schlag. Frontal. Direkt ins Gesicht. Freigelegt, wie ein Saurierskelett, sitze ich der Archäologin gegenüber. Das sterile Therapiezimmer verwandelt sich zu der staubigen Abstellkammer, in die ich geschickt wurde, jedes Mal, wenn sie stritten.
Die hocherhobene Faust meines Vaters im Strukturglas des Türfensters. Sein Gegenargument in den ewigen Diskussionen um die verzockte Abfindung, mit dem er Mamas Augen noch ein paar Farbtöne blauer schlägt, bis sie irgendwann Mühe hat, die Blessuren zu überschminken. Wie sie die Bestätigung, die sie daheim nicht mehr bekommt, bei anderen Männern holt und immer seltener den Weg nach Hause findet.
Wie ich dann bei den Wutausbrüchen und Prügeleien an ihrer Stelle herhalten muss. Die Schläge tun nicht weh und sind nur oberflächlich im Vergleich zu den Wunden, die eine zerrüttete Familie hinterlässt und die wesentlich tiefer gehen. Und all der Sud aus Enttäuschung, Verletzung, Schmerz und Trauer, der vom ehemaligen Familienglück noch übrigblieb und der monatelang in mir brodelte bis mein Körper zu implodieren drohte, bahnt sich jetzt seinen Weg durch das Überdruckventil nach außen. Er ergießt sich in Form von Tränen über meine Wangen und zum ersten Mal seit den Vorfällen entweicht meinen stumm aufeinander gepressten Lippen ein Wort von Bedeutung.
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