Schneeflocken
Sie schüttelte sich die Schneeflocken aus den Haaren, hinterließ aber eine triefende Fußspur auf dem roten Teppich. Ihre Wangen waren genauso gerötet wie ihre Augen. Sie zuckte zusammen, als sich die schwere Eingangstür hinter ihrem Begleiter schloss.
von Jule Schweitzer
Sie schüttelte sich die Schneeflocken aus den Haaren, hinterließ aber eine triefende
Fußspur auf dem roten Teppich. Ihre Wangen waren genauso gerötet wie ihre Augen. Sie
zuckte zusammen, als sich die schwere Eingangstür hinter ihrem Begleiter schloss.
»Huhu«, rief sie in den Kirchenraum hinein. Unhöflich. Ich hätte gerne zurückgerufen, um
ihre Reaktion sehen zu können, aber ich konnte nicht.
»Schhh!«, machte ihr Begleiter und legte eine Hand um ihre Taille, »
du willst doch die Geister nicht stören!« Sie kicherte.
»Hier sind keine Geister, du Trottel. Wir sind in der Kirche, nicht auf dem Friedhof. Hier ist
höchstens Gott und der schläft nicht.«
»Ach, ist das so?«, fragte der junge Mann und kniff sie in die Hüfte. Sie quietschte auf. Dann
drehte sie sich aus seinem Griff und lief den Gang hinab zum Altar. Sie fuhr mit den Händen
über den Steintisch, über das Kreuz und blieb an die Decke starrend stehen.
»Und was willst du jetzt hier?«, fragte er. Ungeduldig, lauernd.
»Meinst du, da sind echt Gebeine drunter?« Ihre Gegenfrage begleitend wies sie auf den
Altar.
Er zuckte mit den Achseln. »Was weiß ich? Is mir egal.«
»Willst du es nicht wissen?« Er schüttelte den Kopf.
Sie drehte sich schlagartig um und hüpfte die Stufen vor dem Altar hinunter, in Richtung der
brennenden Kerze, direkt zu mir. Sie würdigte mich jedoch keines Blickes.
»Das ewige Licht«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Stell’ dir vor, ich würde es auspusten. Dann
wäre nichts mehr ewig.« Sie starrte in die Flamme und versuchte, nicht zu blinzeln.
»Mach’ doch«, forderte er sie heraus. Sein Gesicht lag zur Hälfte im Schatten der Kerze. Sie
schüttelte langsam den Kopf. »Nein, es muss ewig sein. Ewig, ewig, ewig, ewig.«
»Ist das, wie lange du hier bleiben willst? Dir ist doch sicher kalt.«
»Nee. Und wenn, wärme ich mich an der Flamme.«
Sie lachte. Er nicht. Er ging langsam an mir vorbei und mit ihm ein Windstoß. Hätte ich noch
echte Haut gehabt, hätte ich beobachten können, wie sich an meinen Armen Haare
aufstellen. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, aber er war wieder da. Er musste sie
absichtlich hierher gebracht haben. Aber warum sah er mich dann nicht an? In seinen Augen
spiegelte sich das Ewige Licht. Eine lodernde Flamme umschloss jeweils eine Pupille. Er
war bereit, Opfer zu bringen.
Ich hatte Jahrtausende auf diese Gelegenheit gewartet und jetzt war ich hier, versteinert,
und konnte nur zusehen. Das war, was er wollte. Dass ich zusah.
Sie hatten sich eingeredet, dass er es bereute. Dass er sich mich zurückwünschte. Natürlich
hatte er ihre Naivität ausgenutzt. Und jetzt nutzte er ihre Naivität aus. Wie sie dort stand, so
aufgeregt, angetrunken, ausgeliefert. Er durfte nicht damit davon kommen. Nicht dieses Mal.
»Hey, was ist eigentlich in Weihwasser drinnen?«, fragte sie plötzlich. Sie hatte den kleinen
Schrank neben dem Altar geöffnet.
»Was weiß ich«, sagte er schon wieder. Er war abgelenkt. Mental war er schon gar nicht
mehr hier. Deshalb sah er auch nicht, dass sie mit ihren Händen Weihwasser aus dem
silbernen Behälter schöpfte und sich damit auf ihn zubewegte. Sie quiekte auf, als er sich
genau in dem Moment umdrehte, als sie ihm die erstaunlich große Menge Weihwasser, die
in ihre zarten Hände passte, gegen den Kopf warf. Er schrie auf, vertuschte seinen Schrei
durch bemühtes Lachen und drehte sich von ihr weg. In meine Richtung.
Sie kicherte. Sie hätte damit aufgehört, hätte sie, wie ich, die Blutblasen sehen können, die
die Wasserperlen beim Abtropfen hinterließen. Wenn sie überhaupt so weit kamen und sich
nicht sofort in sein Fleisch einbrannten.
»Kain?«, fragte sie zaghaft. Ich konnte nicht fassen, dass sie seinen Namen kannte und
dennoch mit ihm hier war. Aber wahrscheinlich sagte der Name ihr nicht mal etwas, so wie
dem Rest ihrer blasphemischen Generation. Beinahe, beinahe hätte ich sie daraufhin ihrem
Schicksal überlassen. Aber dann sah ich die Sorge in ihren grünen Augen und damit direkt
in ihr Herz. Sie hatte das nicht verdient.
»Kain, hat dir das weh getan? Hab’ ich dich blöd getroffen?«, hakte sie nach.
Ich glaubte, seine Schneidezähne aufblitzen zu sehen, genau wie damals, kurz bevor…
Er drehte sich zu ihr um, behutsam darauf achtend, dass er für sie immer noch im Schatten
stand. »Nicht so schlimm, hatte nur ein paar Tropfen im Auge.« Er lachte kalt.
Sie wich zurück. Unauffällig, aber sie wich zurück. Von meiner Position aus war sein Gesicht
jetzt schwer zu erkennen, aber es sah beinahe so aus, als hätte er die Rechnung ohne das
Ewige Licht gemacht. Aus diesem Winkel müsste es genau auf sein Gesicht fallen.
Sie hatte erkannt, dass etwas nicht stimmte. Dachte ich, denn plötzlich ging sie auf ihn zu.
Langsam, mit wiegenden Hüften und einem Lächeln auf dem Gesicht.
Sie sprang genau in dem Moment zur Seite, als er sich auf sie stürzen wollte. Er verlor das
Gleichgewicht ein wenig, konnte sich aber gerade noch am Altar festhalten und wechselte
den Kurs wieder auf sie zu. Sie drehte sich um und warf den noch immer halbvollen Becher
Weihwasser blind auf ihn. Wieder schrie er.
Sie rannte auf mich zu. Wusste ich, dass ich hier war, um sie zu retten? War ich das?
»Ich krieg dich so oder so!«, rief er und seine Stimme hallte an den Kirchenwänden wieder.
Als er wieder auf sie zu lief, bewegte sie sich nicht mehr. Sie stand so nah neben mir mit
dem Rücken an der Wand, dass ich sie atmen hörte. Als er sie so sah, bereits gefangen,
verlangsamte er seine Schritte und schlenderte auf sie zu. Mit siegessicherem Gesicht sah
er sie an, seine Lippen bewegten sich in gruseligem Gebet. Genau dieses Gebet hatte er
auch damals gesprochen- ein Opfergebet.
Sie wartete ab, bis er nicht einmal eine halbe Armlänge mehr von ihr entfernt war, dann griff
sie, wieder, ohne hinzusehen, nach dem Ewigen Licht. Sie hielt es direkt unter seine Nase
und drückte dann mit zugekniffenen Augen die Flamme in sein Gesicht. Er taumelte, stürzte.
Anstatt zu rennen sah sie ihm dabei zu, wie er versuchte, das Feuer, das ihn Stück für Stück
verschlang, auszurollen.
»Ewiges Licht, Kain. Es geht nicht aus. Nicht, wenn man daran glaubt.«
Ich glaubte, einen Träne an ihrer Wange herunter rinnen zu sehen, doch auf den zweiten
Blick war es nur die letzte Schneeflocke in ihren Haaren, die taute.
Foto von Emmanuel Appiah auf unsplash