»Sommermärchen«
Träumt man nicht die ganzen trist-kalten Monate von ihm? So, als würde man einen festen Zeitpunkt erwarten, an dem man endlich leben darf? Und dann ist er plötzlich da, der Sommer.
Von Xaver Buchner
Ich kann mich noch an ein Gespräch erinnern, irgendwann im Januar oder Februar, mitten im Klausurenstress des letzten Semesters. Drei Freunde und ich standen in der Mensaschlange, froren unsere Finger, Füße und Ärsche ab und philosophierten über unseren Lieblingsmonat. Auch wenn wir uns auf keinen Monat einigen konnten, wurden wir uns einig: Es war nicht der Januar. Und auch nicht der Februar oder November. Schwere Entscheidungen zwischen Mai und August, Juni und Juli wurden getroffen, vor allem aber versank man in träumerischem Fernweh, bevor einen ein eisiger Windstoß wieder in die graue Betonlandschaft holte.
Der Klausurenstress ist der gleiche, nur der Wind etwas milder. Recht viel hat sich nicht geändert und trotzdem ist alles anders. Schon krass, wie viel ein paar Grad Temperatur und kleine Zeichen in der Wetter-App ausmachen können. Ich kaufe mir zwei Augustiner Hell, es ist nicht schwer einen Grund zum Feiern zu finden. Freunde, von denen man nicht wusste, ob sie noch leben, laden zu ihren Geburtstagen ein; Fachschaften, von denen man nicht wusste, dass sie echte Studiengänge darstellen, zu ihren Sommerfesten. Partys, Urlaub, Raves, Freibad. Und Heim-EM-Sommermärchen ist ja dieses Jahr auch noch. Die Terminkalender sind voll.
Vielleicht zu voll. Vielleicht mit dem inneren Gefühl, dass man immer noch auf irgendetwas wartet. Denn auch wenn die Umstände nicht mehr anders sein könnten, in uns schaut’s gleich aus. Wir haben dieselben Ängste, Süchte, Probleme – die Welt auch. Besonders die Welt.
Wir versuchen so brachial diese Zeit einzufangen und dabei verlieren wir ihre Besonderheit, laufen irgendeinem Ziel oder irgendeiner Idealvorstellung hinterher, wie es sein müsste, dass es schön oder perfekt ist, bis wir erschöpft feststellen, dass bald September, dass bald ein neues Semester, bald eine neue Klausurenphase mit frostigem Wetter kommt, und wir alles, was war, im nervösen Warten auf irgendeine Perfektion ertränkt haben, die es nicht gibt. Ich will nicht mehr darauf warten, dass alles so oder so ist, bevor ich mir erlaube, zu leben. Lasst uns jetzt leben, hier und heute.
Ich sitz allein am Balkon. Der Himmel ist noch hellblau, obwohl es schon nach neun ist und die ersten Sterne schon strahlen. Stück für Stück werden die Blautöne dunkler, rot und orange mischen sich darunter. Ich zieh‘ Nikotin in meine Lunge, pust‘ Rauch in die Luft. Das ist mein Sommermärchen, alles ist gut.
Beitragsbild: Xaver Buchner